Goran Vojnović, 18 Kilometer bis Ljubljana

goran vojnovic, 18 kilometer bis ljubljanaWie viel Platz braucht eine Kultur, um Fuß zu fassen? Gibt es so etwas wie kreativ-tektonische Bodenplatten, die Kultur erzeugen, wenn sie aneinander reiben? Kann das Individuum seine Kultur selber wählen oder fällt diese einfach über einen her, wenn man bestimmten Boden betritt?

Goran Vojnović schreibt abermals einen soziokulturellen Roman aus der Vorstadt von Laibach. Der Held Marko aus dem Jahr 2008 (Tschefuren raus!) ist längere Zeit in Bosnien gewesen und kommt im neuen Roman „18 Kilometer bis Ljubljana“ (2023) zurück in das Stadtviertel Fužine, um zu sehen, dass nichts mehr ist wie früher.

Marko ist Tschefur, ohne dass er genau wüsste, was damit gemeint ist. Tschefuren-Geschichten handeln davon, dass die Helden nicht das sind, wofür sie von anderen gehalten werden. Im aktuellen Staat Slowenien sind darunter meist „Überbleibsel“ aus Jugoslawien gemeint, die einst zwangsweise in den Vorstädten angesiedelt worden sind, um das rein Slowenische aufzumischen. Zumindest fühlen sich die Tschefuren so, weil sie keine andere Erklärung für ihre Existenz in Slowenien haben.

Im privaten Bereich gibt es für Marko keine positive Entwicklung, alles steuert auf das Projekt biographische Sackgasse zu. In Bosnien hat er sich die letzten zehn Jahre mehr recht als schlecht mit kleinen Überlebensjobs durchgeschlagen, an der muslimischen Kultur ist er letztlich gescheitert, weil er keinen Zugang gefunden hat, eine Beziehung mit einer Muslima ist misslungen, weil Marko zu viel slowenischen Background dabei ausgespielt hat.

Und Bosnien selbst ist in einem erbärmlichen Zustand, man hält beispielsweise am Festnetz fest, weil die Leitungen Krisen-tief vergraben worden sind und bis zur nächsten Auseinandersetzung mit den Nachbarn sicherer sind als Funkmasten, die gesprengt werden können. Die Regierung ist seit Jahrzehnten die gleiche, sie kann nicht abgesetzt werden, weil man nicht weiß, wo sie ist. Über dem ganzen Land schwebt die Parole:

Wichtig ist kooperieren, nicht gewinnen. (131)

Als Marko wieder im Laibacher Vorort eintrifft, ist sein Vater an Krebs erkrankt, aber man darf diesen nicht beim Namen nennen, sonst muss man sterben. Hinter dieser Verdrängungsstrategie steckt die Erfahrung, dass du immer stirbst, wenn du die Probleme mit ihrem wahren Namen aussprichst.

Vater versucht sein „normales“ Leben fortzuführen, indem er den harten Hund spielt, der in der Fremde vergessen hat, wo er herkommt. Er streitet täglich mit seiner Frau, um den Frust loszuwerden, denn zu Hause poltern hält jung, wenn man schon nicht in der Öffentlichkeit lärmen darf. Ehrensache, dass er mit dem Bus zur Operation in die Klinik fährt, damit es nicht auffällt. Von der Operation geschafft schaut er mit dem Sohn eine Sportübertragung in der Hoffnung, dass etwas patriotisch Passendes dabei ist. Das Weiterleben ist zumindest für einen Tag gesichert, man weiß ja noch nicht, wie die Operation ausgegangen ist.

Marko indessen geht kopfschüttelnd durch das Stadtviertel, das in leichten Ansätzen auf nobel macht. Die ehemaligen Tschefuren sind weggezogen, gestorben oder haben kleine Geschäfte aufgemacht, in denen sie nutzloses Zeug verkaufen. Die Jugend-Banden haben sich aufgelöst, ja selbst die Liftanlagen sind mittlerweile rein, niemand kritzelt mehr Untergrundbotschaften an die Wände, um ein Gebiet zu markieren.

Einmal versucht sich Marko mit einem kleinen Deal, indem er als slowenisch wirkender Geschäftsmann einen LKW voll mit verdorbenem Fleisch ins Land zu schmuggeln versucht. Er geht beim Zoll als seriös durch, zumal die bosnischen Beifahrer den Mund halten und keine tschefurischen Zoten von sich lassen.

Jetzt, wo er es selber nicht mehr spricht, merkt der Held, wie zotenhaft und brutal das Tschefurische ist, wenn jemand um Anerkennung seines Status bettelt, von dem er nichts Genaueres weiß.

Auf der Schmuggelfahrt müssen die Kilometer mühsam abgearbeitet werden. Marko ertappt sich, wie er in dieser Nacht plötzlich Laibach als seine Heimat entdeckt. „Noch 18 km bis Ljubljana!“ (109) Endlich weiß er, wo es langgeht.

Wenn man mehrere Heimaten hat, holt einen immer wieder jene ein, in der man gerade nicht ist. Eine Verwandte aus Bosnien ruft an, dass er bei ihr zu Hause polizeilich gesucht werde. In Bosnien ist es üblich, jemandem die ganzen offenen kriminellen Tatbestände nachzuschicken, wenn er ins Ausland geht. Wahrscheinlich wird sich Marko auf einer slowenischen Polizeistation äußern müssen, jetzt, wo er deren Sprache spricht.

Goran Vojnović erzählt den puren Alltag. Ohne dass die Helden eine Perspektive haben gilt es, die Vergangenheit zu vergessen. Das ist wahrscheinlich auch für jenen Staat ratsam, der noch immer in seiner Konsolidierungs-Phase steckt. In einem umfangreichen Glossar sind Fakten, Patrioten und Eintages-Helden entschlüsselt. Bei einem Partisanen-Darsteller (314) steht, dass er 2026 sterben wird, weil er 1933 geboren ist. Kluge Tippfehler können jemanden unsterblich machen.

Als Leser hat man mit den Helden nur bedingt Mitleid, denn sie sind ohnehin voll von Selbstmitleid, so dass kein zusätzliches Gefühl mehr Platz hat. – Als Parabel für die Außenseiter ist das Tschefurentum freilich weitaus mehr als Literatur, es ist pure Zeitgeschichte.

Goran Vojnović, 18 Kilometer bis Ljubljana. Roman, a. d. Slowen. von Klaus Detlef Olof [Orig.: Dordić se vrača; Ljubljana 2021]
Wien, Bozen: Folio Verlag 2023, 316 Seiten, 26,00 €, ISBN 978-3-85256-884-3

 

Weiterführende Links:
Folio Verlag: Goran Vojnović, 18 Kilometer bis Ljubljana
Wikipedia: Goran Vojnovic

 

Helmuth Schönauer, 18-08-2023

Bibliographie

AutorIn

Goran Vojnović

Buchtitel

18 Kilometer bis Ljubljana

Originaltitel

Dordić se vrača

Erscheinungsort

Bozen

Erscheinungsjahr

2023

Verlag

Folio Verlag

Übersetzung

Klaus Detlef Olof

Seitenzahl

316

Preis in EUR

26,00

ISBN

978-3-85256-884-3

Kurzbiographie AutorIn

Goran Vojnović, geb. 1980 in Ljubljana, lebt in Ljubljana.

Klaus Detlef Olof, geb. 1939 in Oebisfelde, lebt in Zagreb und Pula.