Vorlesen – Frühe Impulse für das Lesen

bilder-tibs-at-2592.jpgSeit 2007 untersuchen Stiftung Lesen, DIE ZEIT und Deutsche Bahn Stiftung jährlich im Rahmen der etablierten Vorlesestudie das bundesweite Leseverhalten und die Bedeutung des Vorlesens für die Entwicklung von Kindern.

Um beobachten zu können, wie sich die Situation des Vorlesens verändert und wie Ereignisse und Entwicklungen kurz- und längerfristig darauf Einfluss nehmen, werden die Vorlesestudien mit neuem Design und unter dem Namen Vorlesemonitor fortgeführt. Während sich die bisherigen Vorlesestudien in jedem Jahr einem speziellen Thema widmeten, werden nun zentrale Basiswerte über das (Vor-)Leseverhalten bei Kindern im Alter von ein bis acht Jahren mit einem jährlich vergleichbaren Fragenkatalog erhoben.

Für den Vorlesemonitor 2022 wurden vom 14. Mai bis zum 18. Juni 2022 839 Eltern 1- bis 8-jähriger Kinder in persönlichen Interviews befragt. 42 Interviews wurden mit Vätern und 797 mit Müttern geführt. Der Vorlesemonitor gibt Aufschluss über die Vorlesepraxis in Familien, zieht Rückschlüsse im Vergleich zu den letzten Jahren und analysiert Vorlesebiografien und Risikofaktoren sowie den Einfluss der Verfügbarkeit von Vorlesestoff – sowohl in Bezug auf analoge als auch digitale Angebote. 

Zentrale Ergebnisse und Handlungsempfehlungen der Vorlesestudie:

Verfügbarkeit von Vorlesestoff erhöht die Wahrscheinlichkeit für regelmäßiges Vorlesen

Die Wahrscheinlichkeit, dass Eltern regelmäßig vorlesen, steigt mit der Präsenz von Büchern im Haushalt. In 44 % der Familien gibt es maximal 10 Kinderbücher.

Vorlesen geht auch digital. Digitale Angebote zum Lesen und Vorlesen, die Eltern mit Kindern gemeinsam, aber auch Kinder alleine nutzen können, sind bereits in einem Teil, bei weitem aber nicht der Mehrheit der Familien präsent. Dort, wo Eltern sie nutzen, sind die weitaus meisten selbst aktiv als Vorlesende, nur wenige nutzen ausschließlich die elektronische Vorlesefunktion und -stimme.

Fördermaßnahmen sollten weiterhin Voraussetzungen dafür schaffen, dass Geschichten und Vorlesematerialien in den Familien verfügbar sind – in Form von Büchern und digital.

In digitalen Angeboten liegen klare Chancen, weil Eltern jüngerer Kinder sie tendenziell gemeinsam mit ihren Kindern nutzen und dabei auch selbst aktiv sind, also vorlesen, Sprachanregungen geben usw. – selbst dann, wenn sie von sich selbst gar nicht wahrnehmen, dass sie damit tatsächlich vorlesen. In diesem Kontext sollten Maßnahmen stärker als bisher auf Bewusstseinsbildung und Sensibilisierung zielen, wie Eltern im Alltag Anregungen geben und vorlesen können und was alles zusätzlich zum klassischen Buch dazu gehört.

Bildungsbenachteiligung fängt bereits lange vor der Schule an, aber Vorlesen schafft Perspektiven in nächste Generationen hinein

Der stärkste Risikofaktor, dass Kinder keine oder nur wenige Impulse durch Vorlesen erhalten, liegt in den Bildungsvoraussetzungen der Eltern. 52 % der Eltern mit formal geringer Bildung lesen selten oder nie vor (im Vergleich zu 39 % im Durchschnitt). Kinder bildungsbenachteiligter Eltern sind bereits vor Eintritt in die Schule aufgrund ihrer Bildungsherkunft benachteiligt.

Wer selbst in der eigenen Kindheit zu Hause Vorlesen erlebt hat, liest den eigenen Kindern später mit höherer Wahrscheinlichkeit vor, als wenn die eigene Erfahrung fehlt. Dies zeigt sich tendenziell auch bei Erwachsenen mit formal geringer Bildung.

Fördermaßnahmen müssen weiter intensiv vor allem dort ansetzen, wo Kinder in sozial und bildungsbenachteiligten Elternhäusern aufwachsen. Diese Investition fördert perspektivisch auch nachhaltig die Chancen der nächsten und übernächsten Generationen, denn Kinder, die Impulse durch Vorlesen erhalten haben, werden diese Erfahrung mit einiger Wahrscheinlichkeit an ihre Kinder weitergeben – auch dann, wenn sie selbst keine formal hohe Bildung erreichen.

In der frühen Biografie von Kindern muss Vorlesen von Anfang an und bis in die Schulzeit hinein wirksam werden können

In 39 % der Familien mit Kindern zwischen einem und acht Jahren erhalten Kinder nur wenige oder gar keine Impulse durch Vorlesen.

Hinter dem Durchschnittswert steckt eine klar konturierte „Vorlesebiografie“: Viele Eltern fangen erst vergleichsweise spät an – mit oder nach dem 2. Geburtstag der Kinder. Zwischen drei und fünf Jahren wird den meisten Kindern zu Hause vorgelesen. Spätestens mit Eintritt in die Schule bricht das Vorleseverhalten der Eltern aber massiv ein, deutlich stärker als noch 2019.

Man kann davon ausgehen, dass vor allem der Einbruch mit Schulbeginn für viele Kinder zu Frustration führt und ihre Lesemotivation massiv hemmt, weil ein gleitender Übergang fehlt.

Fördermaßnahmen müssen Eltern darin bestärken, Vorlesen, Erzählen, Betrachten von Anfang an in den Alltag zu integrieren. Sie sollten Eltern motivieren und überzeugen, auch den Übergang in die ersten Schuljahre hinein mit Vorlesen zu gestalten, bis die Kinder selbst gut lesen können. Vorlesen muss im Alltag präsent sein und bis in die Schulzeit hinein wirksam werden können.

Dabei muss Vorlesen auch in der gesellschaftlichen Wahrnehmung von einer privaten Option zur bildungspolitisch ernst zunehmenden und für jedes einzelne Kind notwendigen Maßnahme werden, die im familiären und vorschulischen Raum auf die Chancen im formalen Bildungssystem einzahlt.

 

Quelle: Lesen in Deutschland – Projekte und Initiativen zur Leseförderung
Bild: Andreas Markt-Huter (http://bilder.tibs.at/node/2592)
Lizenz: CC BY-NC-SA 3.0 AT

Online abrufbar unter: Vorlesemonitor 2022: Frühe Impulse für das Lesen - Realitäten in den Familien | Lesen in Deutschland (lesen-in-deutschland.de)