Hans-Werner Goetz (Hg.), Kontroversen in der jüngeren Mediävistik

hans werner goetz, kontroversen in der jüngeren Mediävistik„Überblickt man das vorgeführte, noch höchst unvollständige und oft nur angedeutete Spektrum, dann haben Kontroversen unterschiedliche Entstehungsursachen: Sie resultieren, als Debatten zwischen Weiterentwicklung und Beharren, teils aus dem Wandel der Geschichtswissenschaft bzw. der Mediävistik und somit auch aus dem Zeitgeist, aus veränderten Bedürfnissen und anderen Fragestellungen, die zum Widerspruch derer führen, die am Bisherigen festhalten […], teils aber auch aus dem Anspruch neuer Richtungen, die Geschichtswissenschaft insgesamt zu bestimmen.“ (S. 46)

Der Wandel in den wissenschaftlichen Methoden, Ansätzen, Themenstellungen und Interessenslagen führt naturgemäß zu Debatten, manchmal auch Streit, der nicht selten zwischen sich ablösenden Forschergenerationen ausgetragen wird. Dabei bleibt auch die Geschichtswissenschaft vom gesellschaftlichen und politischen Wandel und dem Aufkommen neuer Maßstäbe nicht unberührt, die sich auch im Sammelband zu den „Kontroversen in der jüngeren Mediävistik“ niederschlagen.

Die dreizehn Aufsätze österreichischer, deutscher, französischer und englischer Mediävisten verteilen sich auf die beiden Themenblöcke „Kontroverse Forschungsrichtungen und Ansätze“ und „Kontroverse Themen und Fachgebiete“. Im ersten Themenschwerpunkt geht Thomas Ertl der Frage nach dem „Streit ums Globale – Die Grenzen der mittelalterlichen Geschichte“ nach und thematisiert damit einen Trend zur Hinwendung auf eine globale Betrachtungsweise historischer Forschung. Dabei setzt er sich mit der Herangehensweise der gegenwärtigen globalgeschichtlichen Mittelalterforschung und den damit verbundenen Herausforderungen und Kontroversen auseinander.

Amalie Fößel setzt sich mit einem weiteren Schwerpunktthema gegenwärtiger Geschichtsforschung auseinander, der Frauen- und Geschlechtergeschichte. Dabei geht sie zunächst der geschichtlichen Entwicklung des Forschungsthemas selbst nach, um dann ihren Blick speziell auf die Frage in Bezug auf die Mediävistik zu richten. Martin Gravel wiederum geht der Frage nach der Bedeutung der Schule der Annales auf die Mediävistik nach.

Wolfgang Hasberg schreibt in seinem Aufsatz „Ansichtssache Mittelalter – oder: Metaphorik der Alterität einer Epoche“ über die Diskussion zur Definition der Epochenbezeichnung Mittelalter selbst und über die Betrachtungsweise des Mittelalters als eine Andersartigkeit, in der das Mittelalter einmal als dunkles Zeitalter erscheint, ein andermal wieder in grellen Farben gezeichnet wird. Juliane Schiel widmet sich wiederum einer vergleichsweise neueren Diskussion nämlich der „Anwendung hochmoderner Theorien auf das Mittelalter am Beispiel der ‚Critical Race Theory‘“. Dabei stellt sie die Geschichtswissenschaft zunächst als Seismographen gesellschaftlicher Zustände vor, um dann aufzuzeigen, wie beispielsweise die Critical Race Theory Einfluss auf bestimmte Bereiche der Mediävistik ausübt.

Im zweiten Themenschwerpunkt geht Wendy Davies den Thesen von Andrew Watson’s „green revolution“ aus dem Jahr 1974 nach, in dessen Mittelpunkt eine islamische Agrarevolution in der Zeit zwischen 700-1000 steht, mit der die Landwirtschaft im Mittelmeerraum verändert wurde. Die die anschließende Kontroverse darüber hat sich hauptsächlich auf den englischsprachigen Raum konzentriert. Simon Groth untersucht in ihrem Beitrag „Klassenkampf im Mittelalter?“ die Auseinandersetzung mit dem Stellingauffstand in Sachsen in der Mitte des 9. Jahrhundert durch die Mittelalterforschung der DDR und deckt dabei die ideologischen Probleme auf, mit denen die marxistische Geschichtsschreibung zu kämpfen hatte.

Nikolas Jaspert geht in seinem Beitrag „Der Streit um die ‚Reconquista‘“ auf den Einfluss politischer Entwicklungen auf Betrachtungen des Mittelalters am Beispiel der Instrumentalisierung des „Reconquista-Begriffs“ in der spanischen Geschichtsschreibung nach. Brigitte Kasten wiederum erläutert die Ursachen und Hintergründe „Zum Deutungstreit über das Lehnswesen im Frühmittelalter in der deutschen mediävistischen Forschung“. Dabei betrachtet sie Fragen nach dem Modell „Lehnswesen“, nach Wirtschaft und Sozialleben sowie nach Politik und Verwaltung.

Régine Le Jan beleuchtet in ihrem Beitrag „La parenté au premier Moyen “ge, un objet de débats“ die Kontrovers, über den Einfluss der Verwandtschaftssysteme auf die Entwicklung des mittelalterlichen politischen Sozialsystems. Steffen Patzold geht der „Kontroverse über die ‚mutation féderale‘ aus deutscher Perspektive“ nach, die vor allem in den romanischsprachigen Ländern Frankreich, Italien und Spanien zu heftigen Diskussionen Anlass gab. Abschließend setzt sich Ian Wood in seinem Aufsatz „Recent controversies about the transformation oft he Roman Empire“ mit dem Übergang des Spätrömischen Reichs zum Frühmittelalter auseinander, der unter Mediävisten unterschiedliche Theorien finden lässt.

Der Sammelband „Kontroversen in der jüngeren Mediävistik“ gibt recht anschaulich die vielfältigen thematischen Kontroversen innerhalb der Mediävistik wieder, in denen sich die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und Veränderungen der letzten Jahrzehnte widerspiegeln. Dabei bieten die Beiträge den Leserinnen und Lesern meist einen offenen um Objektivität bemühten Einblick in die unterschiedlichen Standpunkte, ohne sich selbst über die Maße für eine der kontroversiellen Streitpunkte zu engagieren.

Ein überaus lesenswertes, über die Fachwissenschaft der Mediävistik hinausreichendes mehrsprachiges Sachbuch, das die gegenwärtigen Diskussionen und Kontroversen der mittelalterlichden Forschung auch für alle am Mittelalter interessierten Leserinnen und Leser nachvollziehbar zu vermitteln weiß und einen spannenden Einblick in die historischen Debatten der Gegenwart bietet.

Hans-Werner Goetz (Hg.), Kontroversen in der jüngeren Mediävistik.
Köln: Böhlau Verlag 2023, 472 Seiten, 83,00 €, ISBN 978-3-412-52828-7

 

Weiterführende Links:
Böhlau Verlag: Hans-Werner Goetz (Hg.), Kontroversen in der jüngeren Mediävistik
Wikipedia: Hans-Werner Goetz

 

Andreas Markt-Huter, 19-01-2024

Bibliographie

AutorIn

Thomas Ertl / Amalie Fößel / Martin Gravel / Wolfgang Hasberg / Juliane Schiel / u.a.

Buchtitel

Kontroversen in der jüngeren Mediävistik

Erscheinungsort

Köln

Erscheinungsjahr

2023

Verlag

Böhlau Verlag

Herausgeber

Hans-Werner Goetz

Seitenzahl

472

Preis in EUR

83,00

ISBN

978-3-412-52828-7

Kurzbiographie AutorIn

Prof. Dr. Hans-Werner Goetz lehrte mittelalterliche Geschichte an der Universität Hamburg. Er beschäftigt sich vor allem mit den Vorstellungswelten des frühen und hohen Mittelalters.