Literacyerwerb bei Kindern

kinder_schulbeginnDie Förderung der sprachlichen Entwicklung in der frühen Kindheit legt die Grundlage für das spätere Erlernen des Lesens und Schreibens und nimmt damit in der Elementarpädagogik einen zentralen Stellenwert ein. Dabei werden gezielt Fertigkeiten und Fähigkeiten entwickelt und unterstützt, die für einen kompetenten Umgang mit Sprache benötigt werden.

Der Begrifff „Literacy“ wird in der Lesepädagogik als Überbegriff verstanden, der alle Fertigkeiten rund um das Erzählen, Lesen, Schreiben und um Bücher einschließt. Dabei sind die dazugehörigen Fähigkeiten und Kompetenzen jeweils vom Alter abhängig. Grundlage für das Erlernen des Lesens und Schreibens sind die Erzählfähigkeit, die eng mit den sprachlichen Kompetenzen und der phonologischen Bewusstheit verbunden ist, sowie die Kenntnis der Symbole, Zeichen, Buchstaben und Schrift.

Erzählfertigkeit

Erzählen ist eine grundlegende Fähigkeit, sich anderen mitteilen zu können und ein wesentlicher Teil der Entwicklung der kindlichen Identität und Gefühlswelt. Dabei vermitteln regelmäßiges und häufiges Vorlesen eine Vorstellung davon, wie Geschichten aufgebaut und was ihre wesentlichen Kennzeichen sind. Dazu gehören sowohl die Strukturierung in Anfang, Mittelteil und Ende, mit ihren besonderen sprachlichen Eigenheiten als auch die Unterscheidung zwischen real erlebten Ereignissen oder ausgedachten, fiktionalen Geschichten, das Nacherzählen von Gehörten oder das Beschreiben von Bildern. Kindergartenkinder sind meist noch auf die Hilfe von Erwachsenen bei der Strukturierung ihrer Erzählungen angewiesen, die durch Nachfragen, Bemerkungen u.a. unterstützt wird.
vorlesen vater und kind
Das gemeinsame Lesen von Bilderbüchern
fördert die sprachliche Entwicklung und
den Wortschatz der Kinder.
Bild: Pixabay

Vom Erzähltyp unterscheiden sich in dieser Altersstufe isolierte und lineare Erzählungen. Bei der isolierten Erzählform erscheinen die einzelnen Erzählelemente unverbunden, während es den Kindern bei einer linearen Erzählform bereits gelingt, die verschiedenen Erzählelemente sprachlich miteinander zu verknüpfen, z.B. mit Bindewörtern wie „und dann“. Im Schulalter sind Kinder dann fähig, selbständig Hauptfiguren auszuarbeiten und den Höhepunkt, die Hauptaussage einer Geschichte zu gestalten und eine gewisse Spannung zu erzeugen. Dafür sind ein umfangreicher Wortschatz und die sichere Anwendung grammatikalischer Regeln notwendig.

Phonologische Bewusstheit

Damit wird die Fähigkeit bezeichnet, sich bei Wörtern auf die formalen Aspekte zu konzentrieren, sie zu analysieren, in ihre Bestandteile, in Silben und Laute zu zerlegen, aber auch aus ihnen die Wörter wieder zusammenzusetzen.

Dabei gilt es Ähnlichkeiten wie das Reimen von Silben zu erkennen, wie Wanne – Tanne – Kanne und von Unähnlichkeiten zu unterscheiden wie Wanne – Tanne – Fichte – Kanne.

Bei der phonologischen Bewusstheit im engeren Sinn geht es darum, bestimmte Einzellaute in Wörtern zu erkennen wie z.B. a in Hahn oder Rand und durch andere Laute zu ersetzen wie z.B. durch u: Huhn oder Rund. Aber auch das Zerlegen von Wörtern in Einzellaute und daraus wieder ein Wort zusammenzusetzen, z.B. „P – a – p – a“.
kanne, wanne, eiche und tanne
Bei der phonologischen Bewusstheit im weiteren Sinn geht auch darum,
Ähnlichkeiten wie das Reimen von Silben zu erkennen.
Bild: Pixbay

 

Buchstabenkenntnis

Zum Erlernen von Buchstaben zählt das Wissen um ihr Aussehen, wie sie geschrieben und wie sie ausgesprochen werden, also wie Buchstaben ihren entsprechenden Laute zugeordnet werden.

Für die ersten Schreibversuche ist es nicht sinnvoll, vorher das Alphabet auswendig zu lernen, weil die Buchstabennamen anders gesprochen wie geschrieben werden, z.B.“ b – be, k – ka“. Besser ist es die Lautwerte der Buchstabe zu verwenden „b, fff, mmm“, weil sich dadurch die Zuordnung von Buchstabe und Laut leichter erlernen lässt und beim späteren Lesen und Schreiben hilft.

Bei den ersten Schreibversuchen werden nicht selten Buchstaben verdreht, Zwischenräume oder Buchstaben ausgelassen. Dabei dominiert häufig eine lautgetreue Schreibweise wie „Schtul“ statt Stuhl. Fehler bei der Verschriftlichung sind im Rahmen des Schreibenlernens als Entwicklungsnormal zu betrachten.

Anregungen durch Vorlesen in der Familie

Vorlesen und gemeinsames dialogisches Lesen von Bilderbüchern helfen Kindern vom Hier und Jetzt zu abstrahieren und Sprache und Literacy gezielt zu fördern. Dabei machen sie Erfahrungen mit sprachlichen Mustern, die nur in geschriebener Form vorkommen und entwickeln einen Bezug zu Büchern, zu Geschichten, die über die Schrift vermittelt werden. Auch andere literarische Medien wie Hörbücher, Zeitungen, Zeitschriften u.a. ermöglichen neue Sprach- und Schrifterfahrungen, die sich durch komplexere Satzstrukturen und erweiterten Wortschatz auszeichnen als die mündliche Alltagssprache. Schrift wird dadurch früh mit Inhalten identifiziert, die spannend sind und neugierig machen und damit die Lust fördern, Lesen und Schreiben zu erlernen. Kinder, denen zu Hause oft vorgelesen worden ist, weisen einen breiteren Wortschatz und ein komplexeres Verständnis der Sprache auf, als Kinder die damit keine Erfahrung haben.

gemeinsames lesen
Kinder, denen oft vorgelesen wird, entwickeln leichter einen
breiteren Wortschatz und ein komplexeres Verständnis der
Sprache.
Bild: Pixabay

Für Kinder aus bildungsfernen Familien oder Familien mit Migrationshintergrund spielt die Förderung in Einrichtungen wie Kinderkrippen oder Kindergärten einen besonders positiven Einfluss auf ihre sprachliche Entwicklung aus, wenn die Qualität des Bildungsangebots hochwertig ist. Diese hängt von der gezielten Interaktion zwischen Kind und Pädagogin aber auch zwischen den Kindern sowie in den Möglichkeiten des Kindes ab, Lern- und Entwicklungserfahrungen zu machen.

Die wichtige Rolle der Interaktion zwischen Erwachsenen und Kindern

Die Aufgabe des Erwachsenen in der frühpädagogischen Praxis ist es, in einer kindergerechten Sprache in der Kommunikation herausfordernde Kontexte für die Kinder herzustellen. Mit Hilfe gezielter Techniken sollen den Kindern die Regelmäßigkeiten in der Sprachstruktur vermittelt werden.

Die Interaktion in der Gruppe der Gleichaltrigen

Für den Status und die Anerkennung innerhalb der Gruppe der Gleichaltrigen ist eine ausgeprägte Sprachkompetenz von entscheidender Bedeutung, um in Gespräche und in den Gedankenaustausch in dieser Gruppe eingehen zu können. Fehlende Sprachkompetenzen können zu einer Ablehnung durch die Gruppe und einem negativen Selbstbild sowie sozialen Rückzug führen. Dies reduziert wiederum die Möglichkeit sprachlicher Interaktionen und Entwicklung. Die Aufnahme von Interaktion mit anderen Kindern bietet somit einen entscheidenden Hinweis auf die sprachlichen und kommunikativen Fähigkeiten eines Kindes. Kinder mit Auffälligkeiten in der Sprachentwicklung zeigen deutlich weniger Initiative, Gespräche mit Gleichaltrigen zu beginnen auch ist die Dauer der Gespräche deutlich kürzer als von Kindern mit zu Kindern mit einer unauffälligen Sprachentwicklung. Beobachten und analysieren lässt sich die Interaktion zwischen Gleichaltrigen in gemeinsamen Spielsituationen. Durch gezielte Gruppenspiele mit einem vorgegebenen Skript lässt sich die Zeit der gemeinsamen sprachlichen Interaktion verlängern und auf beiden Seiten gemeinsame Erfahrungen gewinnen, was eine Integration in die Peer-Group erleichtern kann.

kinder beim sandspiel
Für die Anerkennung innerhalb der Gruppe der Gleichaltrigen ist
eine ausgeprägte Sprachkompetenz von entscheidender
Bedeutung.
Bild: Pixabay

Pädagogische Fachkräfte können gezielt die Entwicklung sprachlicher Fähigkeiten unterstützen. Tim Albers stellt in seinem Buch „Das Bilderbuch-Buch. Sprache, Kreativität und Emotionen in der Kita fördern“ verschiedene hilfreiche Techniken der sprachlichen Förderung vor.
Dazu finden sich Sprachmodelle, die kindlichen Äußerungen vorangehen wie z.B. die Präsentation, wo gehäuft sprachliche Formen verwendet werden, die gefördert werden sollen. Ein Beispiel dafür wäre die richtige Bildung der Perfektform.
„Hast du gesehen? Ich habe eine Farbe genommen. Hast du eine gefunden? Dann habe ich sie …“ Alternativ-Fragen bieten verschiedene Möglichkeiten, mit denen verschiedene Bedeutungen sprachlicher Aussagen vermittelt werden können, wie z.B. Präpositionalphrasen im Akkusativ oder Dativ: „Liegt er noch im Bett oder ist er schon ins Bett gegangen?“

Zu den Sprachmodellen, die kindlichen Äußerungen folgen, gehören die Expansion, bei denen unvollständige kindliche Aussagen ergänzt werden, die Umformung, bei der Aussagen verändert werden, korrektive Feedbacks, bei der Aussagen sprachlich richtiggestellt werden sowie die Extension, bei der kindliche Äußerungen weitergeführt werden.

Bild: buchlesen_kinder

gemeinsames buchlesen mit kindern
Das dialogische Bilderbuchlesen eignet sich bestens bei Unterstützung von
Interaktionen Gleichaltriger und der Gestaltung eines sprachförderlichen Umfelds.

Bild: Pixbay

Weitere förderliche Maßnahme für die Sprachentwicklung sind die Unterstützung von Interaktionen Gleichaltriger sowie die Gestaltung eines sprachförderlichen Umfelds, in dem sich im Kindergartenalltag strukturierte Phasen und freies Spiel abwechseln. Dabei soll ein Gleichgewicht zwischen Interaktionen herrschen, die von Kinder und von Erwachsenen angestoßen werden. Dabei kommt dem dialogischen Bilderbuchlesen eine ganz besondere Bedeutung zu, bei dem sich ein Geschichten-Schema entwickeln lässt, Erfahrungen mit literarischer Sprachen und eine Erweiterung des Wortschatzes sowie von Morphologie und Syntax gewonnen werden kann. Ebenso lassen sich damit Schriftkultur und Lesefreude ganz besonders bei Kindern fördern, die zu Hause nur wenig Kontakt zu Büchern haben oder eine Sprachförderung benötigen.

 

Verwendete Literatur:
Timm Albers, Das Bilderbuch-Buch. Sprache, Kreativität und Emotionen in der Kita fördern. Weinheim: Julius Beltz Verlag 2015, 136 Seiten, 60 farb. Fotos, 20 schw.-w. Tabellen, ISBN 978-3-407-62904-3
Tanja Jungmann: Sprach- und Literacyerwerb (S. 40-63) sowie Timm Albers: Förderung von sprachlicher Bildung und Literacy (S. 217-235). In: Franz Petermann (Hg.) / Silvia Wiedebusch (Hg.), Praxishandbuch Kindergarten

Weiterführende Links:
Universität Graz: 10 Schritte zur alltagsintegrierten sprachlichen Bildung
Universität Graz: Begleitheft - 10 Schritte zur reflektierten alltagsintegrierten sprachlichen Bildung (pdf.)
Bilderbücher und ihre Bedeutung für die Entwicklung von Kindern

 

Andreas Markt Huter, 19-01-2024
Titelbild: Pixabay

Redaktionsbereiche