Andreas Maier, Die Heimat

andreas maier, die heimatVielleicht besteht die Heimat darin, dass ständig Menschen eingeheimatet werden. In der Tiroler Literatur jedenfalls werden ununterbrochen Schriftsteller eingemeindet, damit jene hohe Qualität gehalten werden kann, die von sogenannten Einheimischen allein nie getragen werden könnte.

Andreas Maier gilt gemeinhin als der Schriftsteller der Wetterau. Diese Gegend hinter Frankfurt am Main hat er literarisch hoffähig und international bekannt gemacht. Das Schreiben perfektioniert hat er freilich während seiner Aufenthalte in Südtirol, wo er mit dem internationalen Provinzroman „Klausen“ (2002) eine unübersehbare Markierung gesetzt hat. Seit diesem Roman gilt er als Geheim-Tiroler mit allen Heimatrechten.

Sein Lebenswerk, an dem er seit gut zwanzig Jahren arbeitet, umschreibt er mit dem zeitgeschichtlich aufgeladenen Begriff „Umgehungsstraße“. In der sogenannten Aufbruchsstimmung nämlich glaubte man, alle Probleme mit einer Umgehungsstraße lösen zu können. Auch das historische Bewusstsein wurde nach dieser Methode umschifft, indem man einfach um jedes Problem eine Ausrede herum-dachte.

Im neunten Band dieser „Umgehungsstraße“ geht es um die „Heimat“. Darin reflektiert der Ich-Erzähler, wie er mit diesem Begriff Heimat zu diversen Zeiten zurecht gekommen ist. Anhand seiner Reflexion zeigt sich die ständige Veränderung im Anspruch an jenes große Wort, das zuerst in der NS-Propaganda gepusht, und später bei der Entnazifizierung tabuisiert wurde.

Die Kapitel sind deshalb neutral als Zeitangaben gedacht: Siebziger (11) / Achtziger (51) / Neunziger (137) / Nuller (191). In der Präambel wird darauf hingewiesen, dass viele Straßendörfer, die als die Urzelle von Heimat gehandelt werden, sich die längste Zeit an Abwässern orientiert haben. „Die Heimat ist an einer Pißrinne geboren. Bei mir steht sie an Stelle Nummer 9.“ (9) Der Epilog ist ähnlich lapidar angelegt: „Jeden Tag gehst du jetzt hinaus und schaust dir an, was geworden ist. Überall arbeiten sie, wie ein Ameisenheer, das auf den Gedanken gekommen ist, einen Babelturm zu bauen, nur dass dieser sich flach erstreckt.“ (141)

In vier Jahrzehnte-dicken Anläufen beschreibt das Ich, was die Zeit mit ihm gemacht hat, wie der große Begriff „Heimat“ in den jeweiligen Alltag eingekleidet worden ist, und wie das erzählende Ich aus den Strängen Zeitgeschichte versus biographische Entwicklung einen akzeptablen Gedankenzopf drehen könnte.

Mit dem Einsetzen der eigenen Erinnerung merkt man oft, dass man Begriffe zuerst bei anderen anwendet, ehe man sich selbst ins Spiel bringt. Die Heimatvertriebenen, Heimatlosen und Heimatsuchenden sind vorerst die anderen, denen man manchmal den Begriff Ausländer zuschanzt, ehe man sich auf spezifische Eigenheiten kapriziert, die einem Land zugeordnet werden, die Italiener mit ihren Pizzen, die Türken mit ihren Kebabs, das „Zigeunermädchen“, das kein Land, sondern einen Mythos als Heimat hat.

In der Grundschule tauchen um jene Zeit der Siebziger immer wieder sporadische Gäste auf, die ein paar Tage den Unterricht besuchen, ehe sie mit dem Zirkus weiterziehen, der in der Kleinstadt Station gemacht hat. Die Warnungen der Großeltern vor Fremden, die das Christentum bedrohen (32), dringt bloß an die Oberfläche der Diskussion und sind sinnlos, denn das Christentum ist längst verschwunden und kann nicht mehr bedroht werden. Zumindest auf dem Schulareal nicht.

In den Achtzigern kommen idyllisierte Familien ins Haus und erklären das Französische und Englische. Eigentlich kommen sie nicht persönlich vorbei, sondern über den Umweg der Fremdsprachenschulbücher. Während die didaktischen Figuren Grammatik und Klang der Fremdsprache erklären, transportieren sie auch Lebensgefühl und Kultur des fremden Landes. Es stellt sich heraus, dass die Heimat überall gleich konstruiert und konserviert wird, nämlich mit Versatz- und Abziehbildern.

Der Erzähler kommt an der Frankfurter Uni mit dem berühmten Habermas in Berührung, das heißt, er nimmt an einer Vorlesung teil, die für ihn reiner Mythos-Pflege ist. Er versteht kaum etwas vom Inhalt aber lernt, dass es in Zukunft genügen wird, Habermas zu sagen, um die Diskussion zu beenden.

Die Neunziger sind heimatkundlich geprägt vom Zusammenfluss der östlichen mit den westlichen Landesteilen. Der Erzähler geht der eigenen Familiengeschichte nach und merkt, dass er sowohl in Friedberg als auch in Freiberg Stützpunkte der Genealogie hat. Die großen Wörter erfahren ihren Sinn oft in kleinen Begebenheiten. Der erste Trabi, den ein Westler zu sehen bekommt, ist in diesem Jahrzehnt ein Heimat-sprengendes Aha-Erlebnis.

Im neuen Jahrhundert, abschätzig als Nuller bezeichnet, sind die Menschen busy und überall zu Hause. Die Heimat hat es schwer, irgendwie konkret zu werden, der Begriff wird wieder zur Floskel, den man bei Feierstunden und Wahlkämpfen während der Auftritte ins mittlerweile digitalisierte Mikro schleudert.

Andreas Maier erzählt distanziert ironisch seine vorgebliche Geschichte so, dass man als Leser persönlich gemeint ist. Seine Bilder, Dialoge und Erinnerungen sind offen angelegt, damit man als Leser jederzeit mit seinen eigenen Erfahrungen beispringen kann. Vielleicht sollte man diesen klugen Erzählstandpunkt zwischen Pissrinne und babylonischem Flachbau beibehalten, wenn einem jemand ein Gelände zwischen zwei Ortsschildern als Heimat verkaufen will. – Heimat für alle! Der Roman „Heimat“ macht es möglich!

Andreas Maier, Die Heimat. Roman [Umgehungsstraße Band 9.]
Berlin: Suhrkamp Verlag 2023, 245 Seiten, 22,70 €, ISBN 978-3-518-43115-3

 

Weiterführende Links:
Suhrkamp Verlag: Andreas Maier, Die Heimat
Wikipedia: Andreas Maier

 

Helmuth Schönauer 28-08-2023

Bibliographie

AutorIn

Andreas Maier

Buchtitel

Die Heimat

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2023

Verlag

Suhrkamp Verlag

Reihe

Umgehungsstraße Band 9

Seitenzahl

245

Preis in EUR

22,70

ISBN

978-3-518-43115-3

Kurzbiographie AutorIn

Andreas Maier, geb. 1967 in Bad Nauheim, erste Romane verfasst in Brixen/Südtirol, lebt in Frankfurt/M.