Lesekompetenz und Literatur im Deutschunterricht – Teil 3

literatur im deutschunterricht

Welche Rolle spielt das Lesen von Literatur im Unterricht bei der Ausbildung von Lesekompetenz und für die Leseentwicklung und persönliche Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Diese Frage stellt sich speziell für Lehrerinnen und Lehrer, die das Fach Deutsch unterrichten und ihren Schülerinnen und Schüler die Potenziale von Literatur vermitteln wollen.

Literarische Texte und Sachtexte stellen unterschiedliche Ansprüche an den Lese- und Literaturunterricht. Auch wenn die Unterscheidung mitunter verschwimmen mag, drücken Sachtexte generell aus, was intersubjektiv, was eindeutig der Fall ist. Sachtexte verwenden weder blumige, literarische Metaphorik noch deuten sie nur an, was der Fall ist.

Texte für den Literaturunterricht?

Literarische Texte hingegen unterliegen weniger strengen Konventionen. Ihre Inhalte können fiktiv sein, sie werden keiner Realitätsprüfung ausgesetzt und nicht beim Wort genommen. Das Spiel mit der Sprache und verschiedenen Bedeutungsmöglichkeiten sind Kennzeichen literarischer Texte. Reim, Klangfarbe, Rhythmik, Sprachbilder, Parallelismen, Oppositionen u.a. sind Teil der literarischen Sprache, die sie von Sachtexten unterscheiden.

Für das Lesen gilt es zunächst zu beobachten, welche Textsorten Schüler Probleme bereiten, da deren Verständnis unterschiedliche Kompetenzen erfordern und Schwierigkeiten bereitstellen.

Für den Literaturunterricht sollen damit Texte ausgewählt werden, welche die Schülerinnen und Schüler zwar herausfordern aber nicht überfordern. Dabei findet sich in literarischen Erzähltexten meist eine Sprache, die ebenso in der Alltagssprache verwendet wird. Und auch thematisch ähneln die Handlungen, Motive, die Umwelt und die Figuren der Lebenserfahrung und Vorstellungswelt der Leser. Komplexere literarische Texte hingegen können zahlreiche Schwierigkeiten und Hürden bieten, wenn Beweggründe, Symboliken, Ironie und Andeutungen nicht verstanden werden.

Literarische Texte können im hierarchieniedrigen Bereich, also dem Verstehen der Wörter und Sätze, relativ einfach sein, im hierarchiehohen Bereich, wo es gilt komplexe, verdeckte Aussagen und sprachlichen Ausdrucksmittel zu erkennen und einzuordnen, hingegen schwer verständlich wirken.

Sachtexte hingegen zeigen ihre Schwierigkeiten vor allem beim inhaltliche Erfassen der Information während für den hierarchiehohen Bereich, was die Bedeutung der Aussage des Textes betrifft, relativ wenig Probleme bestehen.

büchertisch
Der Einsatz von Kinder- und Jugendliteratur im Unterricht dient vor allem der
Lesemotivation und hat sich schon lange bewährt.

 

Kanon-Bildung im Literaturunterricht

Bei den üblicherweise im schulischen Unterricht verwendeten literarischen Texten lässt sich beobachten, dass überwiegend auf einen weitverbreiteten Kanon zurückgegriffen wird. Kanonische Literatur oder Literaturklassiker helfen dabei Generationen und kulturelle Entwicklungen zu übergreifen und über die individuelle Identität und Gegenwart hinaus Erfahrungen zu vermitteln. Um die Lesemotivation zu fördern, braucht es aber auch aktuelle Gegenwartliteratur, für deren Auswahl stilistische Qualität, Polyvalenz, Exemplarität, zeitdiagnostisches Potential, die Aufnahme von Grundmustern menschlicher Erfahrung, der Interessenshorizont der Schüler u.a. entscheidend sind.

Texte interpretieren

Während Kinder- und Jugendliteratur üblicherweise noch intuitiv verständlich sind, gilt dies für anspruchsvolle Literatur für Erwachsene oder um Literatur aus vergangenen Zeiten keineswegs. Hier helfen Hintergrundwissen und nähere Textanalyse, um die Aussagen und Inhalte richtig zu erfassen. Beim Interpretieren von Texten erweitert und vertieft sich das Verstehen durch die intensive und begründete Auseinandersetzung. So eröffnen Gedichte durch ihre Sprache, Form und Konvention automatische neue Erwartungshorizonte und Verständniszugänge. Und gerade in der Lyrik, in der die Sprache oft inkohärent erscheinen kann und sich der üblichen Leseweise verschließt, eröffnen genaues langsames (poetisches) Lesen und Interpretieren erst Zusammenhänge und Aussagen.

Durch das Wissen über literarische Gattungen nehmen die Leserinnen und Leser unterschiedliche Haltungen zu einem Text ein. Das Genre signalisiert den Lesern, womit sie zu rechnen haben z.B. bei Kinderkrimis, Witzen, Fantasy-Romanen, Fabeln, Parabeln etc. Und wer kennt nicht die berühmte Einleitung „Es war einmal …“, mit dem unausgesprochen ein Märchen angezeigt wird. Vor diesem Hintergrund erhält auch die Einteilung nach Textsorten im Literaturunterricht seine Berechtigung, denn auch hier zeigen sich große Unterschiede zwischen Kindern, die bereits seit frühester Kindheit Erfahrungen mit Literatur sammeln konnten und jenen, die mitunter erstmals in der Schule mit literarischen Texten in Berührung gekommen sind. Das Wissen über die verschiedenen Textsorten zeigt sich als große Hilfe beim Verstehen literarischer Texte. Die Auseinandersetzung mit literarischen Texten soll nicht auf eine Herausarbeitung der Text-Aussage reduziert werden, sondern ganz gezielt auch die Ästhetik von Sprache und Poesie aufzeigen und eine eigene Form des poetischen Lesens sowie eine besondere Haltung des Lesens vermitteln.

Literaturgenres
Das Erkennen des literarischen Genres hilft den Leserinnen und Lesern Texte
richtig zu verstehen und zu interpretieren.

 

Ziele des Literaturunterrichts

Im 18. Jahrhundert stand das Ziel des Lektüre-Lesens ganz im Zeichen der Aufklärung und sollte Wissen und Moral verbessern. Im 19. Jahrhundert kommt die Bedeutung des literarischen Lesens für die Persönlichkeitsentwicklung hinzu. Dazu bildet sich ein Kanon mit den Werken großer Dichter, die als besonders geeignet galten, moralische, kognitive und ästhetische Erfahrung zu vermitteln. Dabei stand die erzieherische Komponente im Vordergrund, während die Freude am Lesen erst im 20. Jahrhundert näher in den Mittelpunkt rückte. Für die Auswahl der Bücher im Literaturunterricht spielen alle drei Ziele des Lesens: lernen, bilden und unterhalten, eine wichtige Rolle.

Zur literarischen Bildung im klassischen Sinn gehört das Kennenlernen klassischer literarischer Werke als kulturelles Erbe, sowie als Teil der eigenen Geschichte und Kultur. Dabei sollen verschiedene literarische Epochen und geistesgeschichtliche Zusammenhänge erkannt werden können. Auf der anderen Seite werden in den klassischen Werken immer wieder überzeitliche existenzielle Grundfragen des Menschen wie Liebe, Tod, Sinn, Macht, Gewalt etc. behandelt.

Der Literaturunterricht geht weit über das reine Lernen, mit Literatur umzugehen, hinaus und verfolgt unterschiedliche Ziele: Lesefreude, Identitätsfindung und Verstehen von Fremdem, literarische Bildung, Entwicklung von textanalytischen Fähigkeiten, Förderung der Vorstellungskraft und Kreativität sowie die Auseinandersetzung mit Grundfragen menschlicher Existenz.

Kaspar H. Spinner nennt elf Aspekte literarischen Lernens:

  1. Beim Lesen und Hören Vorstellungen entwickeln
  2. Subjektive Involviertheit und genaue Wahrnehmung miteinander ins Spiel bringen
  3. Sprachliche Gestaltung aufmerksam wahrnehmen
  4. Perspektiven literarischer Figuren nachvollziehen
  5. Narrative und dramatische Handlungslogik verstehen
  6. Mit Fiktionalität bewusst umgehen
  7. Metaphorische und symbolische Ausdrucksweisen verstehen
  8. Sich auf die Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses einlassen
  9. Mit dem literarischen Gespräch vertraut werden
  10. Prototypische Vorstellung von Gattungen/Genres entwickeln
  11. Literaturhistorisches Bewusstsein entwickeln

Lehrer sollten beim Umgang mit Literatur im Unterricht nicht vergessen, dass Literatur für den Schüler im privaten Bereich zunächst eine ganz persönliche Erfahrung darstellt. Als Gegenstand des Unterrichts können sie erleben, wie sich der Gehalt und die Gestalt der Literatur erweitern lässt. Dabei braucht es neben dem Fachwissen auch eine persönliche Note, um die Schüler zu begeistern und ihnen einen literarischen Blick zu eröffnen.

einfach lesen texte
Einige Verlage bieten in ihrer Reihe "Einfach lesen" Klassenlektüre für
verschiedenen Lesekompetenzstufen und ermöglichen damit einen
gemeinsamen Literaturunterricht für unterschiedliche Leserinnen und Leser.

 

Galt Kinder- und Jugendliteratur im Unterricht früher als verpönt, wird die Auseinandersetzung mit Kinder- und Jugendliteratur heute allgemein anerkannt, weil die Bücher und Texte spezifisch auf die Verstehensmöglichkeiten und Sprachentwicklung der jeweiligen Altersgruppen abgestimmt sind. Außerdem werden Inhalte in einem pädagogischen Sinn umgesetzt, von denen Erwachsene glauben, dass sie Kindern und Jugendlichen zuträglich sind. Zudem konnten sich in der Kinder- und Jugendliteratur spezifische Inhalts- und Darstellungsformen entwickeln, wie z.B. die Veranschaulichung des Textes durch Illustrationen, eigene Konventionen der Gestaltung sowie eigene Themen und Formen des Erzählens.

Vor der Auswahl der verwendeten Literatur hilft es, das Leseverhalten der einzelnen Schülerinnen und Schüler in der Freizeit zu betrachten. Ein niederländisches Forschungsprojekt hat in diesem Zusammenhang fünf „Lesealtersstufen“ entwickelt, wobei das Lesealter nicht mit dem Lebensalter übereinstimmen muss. Ein 15-Jähriger kann z.B. immer noch der 1. Lesealtersstufe zuzuordnen sein.

Einstiegslevel: Lesebeginn
gelesen wird nur, wenn es sein muss

Stufe 1: Lesen ausprobieren
gelesen wird, um sich zu amüsieren

Stufe 2: identifiziertes Lesen
gelesen wird, um die eigene Welt zu erkunden

Stufe 3: reflektiertes, entdeckendes Lesen
gelesen wird, um zum Denken angeregt zu werden

Stufe 3+: analytisches, tiefes Lesen
gelesen wird, um intellektuell herausgefordert zu werden

Bei der Verwendung von Kinder- und Jugendliteratur im Unterricht steht vor allem die Leseförderung im Mittelpunkt. Damit reagiert die Schule darauf, dass immer weniger Kinder und Jugendliche in ihrer Freizeit ein Buch lesen. Daneben lassen sich auch aktuelle gesellschaftliche Themen aufgreifen und im Unterricht diskutieren. Weit zur Verbreitung des Einsatzes von Kinder- und Jugendliteratur haben sicherlich auch die zahlreichen Lehrmaterialien zu vielen Büchern beigetragen sowie die spezielle Bearbeitung von Schullektüre für unterschiedliche Lesekompetenzen. Lehrer sollten sich daher gezielt mit aktuellen Buchneuerscheinungen auseinandersetzen und kontinuierlich eine individuelle Lektüre oder das Lesen in kleinen Gruppen im Unterricht begleiten. Auch eine gezielte Zusammenarbeit mit der Schulbibliothek oder Öffentlichen Bücherei kann sich als fruchtbar erweisen.

 

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  >> Fördern der Leseleistung
  >> Im Unterricht über Literatur sprechen
 

Verwendete Literatur:
Cornelia Rosebrock / Daniel Scherf, Lesedidaktik? Literaturdidaktik? Ein Dutzend Antworten für Einsteiger

 

Andreas Markt-Huter, 06-02-2023

 

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