Markus Lindner, Nachtschnee

markus lindner, nachtschneeDer Klimawandel bedingt, dass die jüngeren Generationen immer öfter Sachen nachschlagen müssen, die für frühere Generationen selbstverständlich gewesen sind. So stellt das schöne Bild vom Nachtschnee die wenigsten von uns vor Imaginationsprobleme, seit der Schnee aber aus den Kanonen kommt, die nächtens surren, muss man die neue Bedeutung von Nachtschnee vielleicht schon googeln. Und den Begriff Steganographie muss man sich ohnehin erarbeiten, er bedeutet so viel wie geheime Nachricht auf einem unerwarteten Datenträger.

Markus Lindner nimmt beispielsweise diesen hybriden Begriff des Nachtschnees als Datenträger auf, um ihm allerhand Informationen einzuspeisen. Vom Layout her gesehen sind die ersten knapp sechzig Gedichte in konventioneller Form als Tageslicht-Texte ausgeführt, das letzte Drittel erstrahlt als Mond-Textur, auf schwarzem Untergrund sind in weißer Schrift die Informationen herausgestochen, typische Nacht-Gedichte eben.

Quasi als Vorspann wird im ersten Gedicht das Programm erklärt. Es handelt sich um eine eilig einberufene Pressekonferenz, die einen Angriff, Überfall oder eine Kriegserklärung beinhaltet. Sogenannte Verbündete der Zivilisation haben sich zusammengetan, um in Syrien Air-Strikes zu fliegen. Dazwischen gibt es für die anwesenden Presseleute Pausen und Verköstigung, der kriegerische Tagesablauf endet mit einer Hochzeit, die bombardiert wird.

Gebeutelt von offiziellen Nachrichten, die je nach Standpunkt individuell gedeutet werden können, werden geheimnisvolle Meldungen ausgeschüttet, die manchmal wie ein bloßer Platzhalter für eine größere politische Erzählung wirken.

So beendet ein Protagonist einen Hungertag damit, etwas essen zu gehen, weil die AMS-Anweisung dann doch noch gekommen ist. (23) Zwei Nachrichten später singen die Fischer vor dem Hafenrestaurant etwas für einen Film, während sie die Netze symbolisch einholen.

Zu Beginn eines Textquadrats blitzt das Wort Ostwand auf und versetzt die Leser in ein Gebirge mit schwer erkletterbaren Flächen. Aber die Zeilen bröseln weiter und schälen ein lyrisches Ich heraus, das allmählich einzuschlafen versucht, während es die Ostwand des Zimmers als Aufstiegshilfe für den Blick nach oben in den Himmel ansteuert. (31)

Regelmäßig kommt es zu Träumen, die artig nummeriert und protokolliert sind. Der Traum 139 etwa geht vom Donaukanal aus und zieht sich wie ein Ischiasnerv durch die ganze Stadt. Im Traum 147 versucht jemand eine Primzahl ausfindig zu machen, seine Anfrage wird aber unterdrückt, weil gerade der Family-Filter aktiviert ist. „Klicken Sie hier, um mehr über den Family-Filter zu erfahren.“

Die Nachrichtenlage ist jeweils ungewiss, denn manche Träume sind nicht nummeriert, dafür wird an anderer Stelle ein Kuss digitalisiert. Und zwischendurch schleicht sich eine kindliche Emotion von Wohlbefinden durch die Föhnstadt.

So sche die Schneenacht / wattiges Schlaftief. (58)

In den Nachtgedichten tauchen im ersten Anblick schöne Bilder auf, die als Ölfilm über die Installation rinnen. Dann freilich entdeckt man als Leser, wie sich die Zeichen allenthalben zu einem Bild zusammensetzen, wie es die konkrete Lyrik früher aus den Schreibmaschinenzeichen herausgeklopft hat. Und in einer dritten Schicht ähnelt das Ganze dann einer Botschaft, die auf Morsezeichen setzt, freilich unhörbar, wie es eben im Nachtschnee üblich ist.

Im letzten Schwarz-Gedicht stürzt ein Himmelspalast ab und wird in ein paar Stunden verglühen. Dieses apokalyptische Bild knüpft an die Eingangs-Pressekonferenz an, worin alles zerstört und dekonstruiert ist.

Aber dann die schöne lyrische Überraschung: Die Steganographien enden in einer hellen Installation. Als Tageslicht-Gedicht ausgeführt kullern Sternchen über das Papier und lassen die Botschaft zurück:

Aus den Tänzen des Nachtschnees formen sich urplötzlich die riesigen wirbelnden Krähenschwärme des Sonnenuntergangs. (112)

Markus Lindners Steganographien haben durchaus den Zug in sich, als subtile Lyrik-Methode anerkannt zu werden. Das Einsatzgebiet ist grenzenlos. Alles kann eine Information sein, alles ein Datenträger. Und wenn es richtig funkt dazwischen, entstehen Gedichte.

Markus Lindner, Nachtschnee. Steganographien, Graphik von Nicole Szolga
Wien: Edition fabrik.transit 2018, 112 Seiten, 13,00 €, ISBN 978-3-9504423-0-4

 

Weiterführende Links:
Edition fabrik transit: Markus Lindner, Nachtschnee
Wikipedia: Markus Lindner

 

Helmuth Schönauer, 16-08-2018

Bibliographie

AutorIn

Markus Lindner

Buchtitel

Nachtschnee. Steganographien

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2018

Verlag

Edition fabrik.transit

Illustration

Nicole Szolga

Seitenzahl

112

Preis in EUR

13,00

ISBN

978-3-9504423-0-4

Kurzbiographie AutorIn

Markus Lindner, geb. 1970 in Schwaz, lebt in Wien.