Alfred Paul Schmidt, Anderswo

alfred paul schmidt, anderswoAls erfolgreiche Erzählstrategien gelten seit Jahrhunderten das Labyrinth und der Spaziergang. Im Labyrinth geschieht alles gleichzeitig und aus der Drohnenperspektive sieht man die Ausweglosigkeit, der Spaziergang hingegen wickelt sich chronologisch ab, der Sinn entsteht in einzelnen Schritten, auch wenn das Ziel vielleicht nie erreicht wird.

Alfred Paul Schmidt nennt seinen Spazier-Roman „Anderswo“, denn der Erzähler hat immer den Eindruck, dass es sich überall anderswo abspielt, nur nicht gerade im Nun und Jetzt bei ihm. Diese Einschätzung führt in ein weites Feld von Themen, die alle gleich logisch oder wichtig sind, wenn man sie nur im Kopf aufbereitet und währen des Gehens aus sich herauslässt.

Über diese Leichtigkeit der Erzählsituation ist eine kleine Rahmenhandlung gespannt, sie dient dazu, die losen Gedanken im Buch zu fixieren.

Der Ich-Erzähler Harry Bei trifft seine Kusine, die gerade ihren Mann in einer psychiatrischen Einrichtung besucht, er hat als Polizist ein Burnout bekommen und will diesen Beruf nimmer ausüben. Der Erzähler ist als Schriftsteller stets auf der Suche nach Stoff. Also geht er gleich mit in die Psychiatrie und trifft dort im Garten eine gewisse Erika, die gerade am Design ihrer schizophrenen Störung herumarbeitet.

Die beiden kommen ins Gespräch und werden spontan mit einer Weisheit zusammengeschweißt:

Eine Geschichte wird durch jedes Erzählen verändert. (21)

Jetzt schmieden sie den Plan, ein halbes Jahr lang miteinander spazieren zu gehen. Die Diskussionen geraten zwischendurch ins Essayistische, wenn die beiden endlich jene Gedanken loswerden, die schon lange in ihren Denk-Reservoirs geschlummert haben.

Die Themen ergeben sich oft aus dem sogenannten echten Leben, worin der Schriftsteller ständig aus dem Prekariat des Drehbuchschreibens ausbrechen möchte, andererseits lebt Erika bei ihren Eltern, die eine Art Bildungsinstitut führen und hemmungslos dem bildungsfeindlichen Markt und der bürokratisch organisierten öffentlichen Hand ausgeliefert sind.

Mit diesen Erfahrungseinspeisungen kommt es etwa zu einer Analyse des Krimi-Genres, das wir vor allem deshalb so häufig aufsuchen, weil darin der Kannibalismus in uns gestillt wird. Das ewige Fressen und Gefressenwerden (41) kommt im Krimi überhöht zur Sprache und gibt den Lesern die Chance, wahlweise Opfer oder Täter zu sein. Gleichzeitig schafft es die Sprache für kurze Zeit, den Traum in uns aus seiner Einsamkeit zu erlösen.

Zwischen den einzelnen Treffs gehen Erzähler und Erika ihren Berufen nach und versuchen, die ausgeheckten Gedanken in Taten umzusetzen. Die Werbeplakate der Innenstadt wirken sich etwa auf das Drehbuch aus, indem der öffentliche Raum zum öffentlichen Fernsehen in Verbindung gebracht wird. Bei allen kreativen Vorgängen lohnt es sich, das „kluge Unterbewusstsein“ (77) anzusprechen.

Das gilt auch für Erika, die mit einem Arzt an einer passablen Krankengeschichte arbeitet. Depression ist eine wertvolle Krankheit, lautet so eine Richtlinie, die dazu führt, aus dem Leben eine Erzählung zu machen. Erst wenn sich ein gewisser Stolz auf die eigene Schizophrenie entwickelt, kann der Heilungsprozess beginnen. (79)

Die Spaziergänge sind randvoll mit Gesprächen und es entsteht keine Pause. Dabei befindet sich hochgerechnet auf die gesamte Menschheit das menschliche Gehirn meistens im Zustand der Untätigkeit. Ein ähnliches Missverhältnis liegt auch in den Büchern verborgen, während das Leben meist als Unglück über die Menschen hinwegrollt, wird in den Büchern so getan, als ob sich alles klären ließe. Im gegenwärtigen Literaturmarkt werden nur lebensbejahende Bücher angeboten. (81) Und selbst das „Lob der Torheit“ macht aus historischen Versagern noch Genies, über die es sich gut schwadronieren lässt.

Allmählich dreht das Jahr, der Held kommt mit dem Drehbuch für das echte Leben gut voran, und Erika feiert nach langer Zeit wieder glückliche Weihnachten mit den Eltern, weil alle gezwungenermaßen aus dem Konsum aussteigen.

Im Stadtcafé sind die Protagonisten einem erstrebenswerten Leben schon ziemlich nahe. Während rundherum Scheidungs- und Betrugsgeschichten erzählt werden, schwärmen die beiden von Kreisky, wie er bei jedem Urlaub in seinem Lieblingsbuch vom „Mann ohne Eigenschaften“ gelesen hat. Glück heißt auch, die richtigen Literaturstellen zu zitieren.

Als dann noch die Kusine erzählt, dass ihr Mann von der Polizei und der Krankheit geheilt sei, fragen sich alle, ob das jetzt schon Kitsch ist, oder noch Leben. Schreiben soll ja das Übersetzen von Wirklichkeit sein, meint der Ich-Erzähler und traut dem erzählten Frieden nicht wirklich.

So greift er zu einer postmodernen Finte und deklariert das soeben Gelesene als einen Roman, den er gerade schreiben wird.

Alfred Paul Schmidts ironisches Setting lässt die Figuren realistisch aussehen, wimmelt es doch nur so von dahin spazierenden Schriftstellern und Schizophrenen, die nichts anders im Sinn haben, als den Frühling durch den Park zu tragen.


Alfred Paul Schmidt, Anderswo. Roman
Graz: Edition Keiper 2021, 187 Seiten, 20,00 €, ISBN 978-3-903322-37-0

 

Weiterführende Links:
Edition Keiper: Alfred Paul Schmidt, Anderswo
Wikipedia: Alfred Paul Schmidt

 

Helmuth Schönauer, 09-01-2022

Bibliographie

AutorIn

Alfred Paul Schmidt

Buchtitel

Anderswo

Erscheinungsort

Graz

Erscheinungsjahr

2021

Verlag

Edition Keiper

Seitenzahl

187

Preis in EUR

20,00

ISBN

978-3-903322-37-0

Kurzbiographie AutorIn

Alfred Paul Schmidt, geb. 1941 in Wien, lebt in Graz.