Thomas Sautner, Die Erfindung der Welt

thomas sautner, die erfindung der weltSchöpfungsgeschichten haben meist einen Prolog, in dem das Wesentliche erzählt wird. Bei der Erschaffung der Welt geht es nämlich wie in der Genesis darum, dass zuerst nichts ist, und dann durch einen Erzähltrick plötzlich die komplette Welt eruptiert. In der Bibel funktioniert das mit dem Satz vom „Anfang war das Wort“, beim Faust mit der Sonne, die nach alter Weise kreist, im Taoismus beginnt die Welt als mathematische Formel, wonach die Eins die Zwei hervorbringt.

Thomas Sautner hat sich für die „Erschaffung der Welt“ ebenfalls einen funktionierenden Erzählhandgriff einfallen lassen. In der Welt der Stipendien- und Auftragsliteratur wird die Literatur erschaffen, indem plötzlich Kohle auf das Konto der Autoren kommt und vielleicht noch die Durchsage, wie viel Zeichen der abzuliefernde Text haben soll.

In Sautners Roman erhält im Prolog die Autorin Aliza Berg von einem magischen „G“ die Einladung, in einem entlegenen Stück Waldviertel auf einem vorgegebenen Quartier Recherchen für einen Roman aufzunehmen. Alle im Literaturkosmos Bewanderten wissen an dieser Stelle, dass die Recherchen schon der fertige Roman sein werden. Es geht nicht darum, etwas allwissend zu erzählen, sondern Vorbereitungen zu treffen, was man vielleicht in Rücksprache mit dem Auftraggeber erzählen könnte.

Während der postmoderne Roman vom Leser verlangt, dass er selbst im Text die Endmontage der Vorgaben im Kopf verfertigt, geht es im Postpost-Roman (manchmal abschätzig als Popo-Roman bezeichnet) darum, das Material so aufzubereiten, dass es der Verleger ins Programm nimmt. In der Gegenwart rechnet nämlich niemand mehr damit, dass ein Roman vom Endverbraucher auch gelesen wird, alles ist bloß darauf ausgerichtet, dass er im Prospekt vorgestellt und gekauft wird.

Diese Literaturkritik lässt Thomas Sautner, der im Waldviertel selbst Schreibwerkstätten veranstaltet, unverblümt durchklingen. Für die Erfindung der Welt bedeutet es, dass es keine Zwänge des Fertigerzählens gibt, es genügt, die Bausteine anzudeuten.

Die „Erfindung der Welt“ zeigt sich als Stoffbeutel, in den während eines Kurzurlaubs die Autorin alles verpackt, was einen wohlklingenden Roman ergibt. In einer überschaubaren Kleinstadt werkelt ein umtriebiger Trafikant daran, neben den Rauchwaren auch Kultur zu vermitteln. Er hat offensichtlich Wind vom Aufenthalt der Autorin bekommen und stellt in seinem Zigarettenlokal alles aus, was nach luftiger Literatur schmecken könnte, darunter das Gesamtwerk der Gastdichterin.

Gleich ums Eck ist das Schloss, in dem die Autorin absteigt, weil das einzige Hotel schon ausgebucht ist. Mit der Gastgeberin Gräfin Elli, 53 Jahre alt, gibt es gleich literarisches Bussibussi, und als später dann noch Graf Leopold dazustößt, ist das Ehepaar Hohensinn komplett und die Romantik abgerundet.

Der Auftrag lautet bekanntlich unvoreingenommen etwas über das Leben zu schreiben, das die Bewohner im auserwählten Quadranten führen.

Das Leben mit unbestechlichen Augen wie neu entdecken. Das hatte G. Sich gewünscht. (249)

Das Grafenehepaar gilt sogleich als die beste Quelle, immerhin ist das Geschlecht schon lange ansässig und kann sich, da es keinem Broterwerb nachgehen muss, den Launen des Daseins und seiner Verschönerung widmen.

Die Stipendiatin notiert alles, was ihr vorgespielt wird, und plant einen Mix aus literarischer Erfindung und vorgeblich authentischen Interviews. Es geht letztlich darum, die Erfindung so vorzustellen, dass das Publikum später glaubt: So muss es sein, so ist es schön!

In den Gesprächen fallen viele sinnvolle Sätze, wie es eben üblich ist, wenn das Bildungsbürgertum die besten Zitate aus der Literaturgeschichte durchgeht. Der Graf Leopold arbeitet intellektuell in der Stadt, am Wochenende kümmert er sich darum, dass die Gegend paradiesisch bleibt.

Eine große Gefahr stellt seltsamerweise das angrenzende Naturschutzgebiet dar, denn im Tourismus wird heutzutage alles überrannt und zerstört, was irgendwer einmal als schützenswerte Besonderheit ausgewiesen hat. An einer anderen Stelle soll der Graf eine Hühnerfarm aufkaufen und die armen Hühner befreien. Und gleichzeitig muss auf die Jagd geachtet werden, das gehört sich so in dieser Gegend.

Eine zusätzliche Stofflieferantin ist die Aussteigerin Kristyna, die auf ihrer Waldlichtung so alles verwirklicht, was in diversen Volkshochschulprogrammen für ein alternatives Leben angeboten wird.

In der Recherche werden die einzelnen Glücksangebote hinterfragt, und wenn sie stimmig wirken, kommen sie ins Textdepot. Während der Textsammlung entwickelt sich dann noch ein echter Hammer-Plot: Graf und Gräfin haben nicht nur Liebschaften an der Seitenfront ihres Schaulebens aufgebaut, sie sterben auch wie in einer Illustrierten am gleichen Tag, und werden feierlich wie in einer Vorabendserie bestattet.

Aliza Berg packt ihren Koffer und fährt mit dem Kleinauto zurück. Das ominöse Kürzel G aus dem Prolog hat noch einmal eine Summe überwiesen, womit sich vermutlich der Roman mit Dämmmaterial ausstaffieren lässt.

Thomas Sautner bedient auf der Romanschablone alle Kundschaften, die im Urlaub ein Stück Glück suchen, und dabei Zeit haben, Sätze auf sich wirken zu lassen. Die Gegend ist touristisch bestens durchmodelliert, das Rare wird angedeutet, so dass es nicht zerstört wird. Die Protagonisten des Aussteigertums bleiben unverbindlich und richten keinen Schaden an, deren Programm könnte man sich also für vierzehn Tag ausleihen.

Zwischen den Zeilen liest man freilich auch eine bedrückende Botschaft. Dieses Schreiben von Saison zu Saison und Katalog zu Katalog ist am Ende. Es fehlt nämlich flächendeckend relevanter Stoff, der zur Literatur werden könnte. Der Literatur scheint es wie dem Netz zu gehen, sie ist mittlerweile schnell durchgescrollt, aber sie hat kaum einen Inhalt. Die Erfindung der Welt ist verschoben, der Leser muss sie sich wohl auch in dieser Saison selbst machen.

Thomas Sautner, Die Erfindung der Welt. Roman
Wien: Picus Verlag 2021, 403 Seiten, 24,00 €, ISBN 978-3-7117-2103-7

 

Weiterführende Links:
Picus Verlag: Thomas Sautner, Die Erfindung der Welt
Wikipedia: Thomas Sautner

 

Helmuth Schönauer, 05-06-2021

Bibliographie

AutorIn

Thomas Sautner

Buchtitel

Die Erfindung der Welt

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2021

Verlag

Picus Verlag

Seitenzahl

403

Preis in EUR

24,00

ISBN

978-3-7117-2103-7

Kurzbiographie AutorIn

Thomas Sautner, geb. 1970 in Gmünd, lebt in Wien und im Waldviertel.