Philip Kerr, 1984.4

philip kerr, 1984.4„»Als du mir erzählt hast, du würdest dich als Katze in einer Welt von Mäusen sehen ... weißt du, da dachte ich, du könntest so jemand sein, Florence. So ein Mensch, den wir hier im PATHway-Institut suchen. Nach allem, was wir als Gesellschaft durchgemacht haben – den Zusammenbruch unserer Währung, unserer juristischen Einrichtungen, unserer Regierung und dann noch die Religionskriege –, glaube ich, dass wir mehr Katzen und weniger Mäuse brauchen.«“ (S. 30)

Nach kriegerischen und sozialen Auseinandersetzungen, die zu einem gesellschaftlichen Zusammenbruch geführt haben, wurde in England, das nun als West-Halbinsel 1 bezeichnet wird, fast weltweit autoritäre Regierungen eingerichtet, in denen der Staat mit technischen Hilfsmitteln die absolute Kontrolle über seine Bürger ausübt. Dazu gehört auch, dass Menschen aber einem gewissen Alter oder fortgeschrittener Demenz freiwillig aus dem Leben scheiden müssen. Alle, die sich weigern, werden von einem speziell eingerichteten Senior-Service aufgespürt und getötet.

Die sechzehnjährige Florence Newton kommt aus dem einfachen Volk und gilt als eines der vielversprechendsten Nachwuchstalente für den Job eines Ruhestands-Vollstreckungsoffiziers beim Senior-Service. Ihre Aufgabe ist es, Menschen, die nicht freiwillig aus dem Leben scheiden wollen, zu finden, zu fangen oder zu töten. Ihre Ausbildung zielt darauf ab, jede Form von Mitleid, Sympathie oder Empathie für die Flüchtenden abzutrainieren und die die vielfältigen Täuschungsmanöver alter Menschen zu durchschauen.

Bei ihrem ersten Einsatz muss sie gemeinsam mit ihren Kollegen eine Gruppe flüchtender Senioren jagen, die sich im Zug von London nach Paris versteckt haben. Gemeinsam mit ihrem Gruppenführer Aaron verfolgt sie einen Senior, dem es gelingt in den Kanaltunnel zu flüchten. Dabei beobachtet sie, wie Aaron von ihrem Kollegen Clive ermordet wird, um sich für eine erlittene Demütigung während der Ausbildung zu rächen. Florence weiß, dass sie den Mord nicht beweisen kann, droht Clive aber damit, ihn eines Tages zu erschießen.

Florence, die stolz auf ihre Herkunft aus dem einfachen Volk ist, steht der gängigen Gedankenwäsche durch die ständigen staatlich gelenkten Witzprogramme, mit denen die Menschen dumm gehalten werden sollen, ablehnend gegenüber. Als ihre Meinung in die Kamera ihres Wrisptpads sagt, mit dem die Gedanken aller Bürger kontrolliert werden, wird sie umgehend in die Hauptstadt in das Büro der Offenen Polizei-Streitmacht beordert, wo mit Hilfe des Frank-Prozesses ihre Gehirnwellen ausgelesen werden.

Sie ahnt nicht, dass dieser Tag ihr Leben auf den Kopf stellen wird. Auf einem Spaziergang lernt sie einen gewissen Mr. Charrington kennen, der sie mit seinen kritischen Gedanken verwirrt und ihr ein Tagebuch schenkt, um ihre Gedanken festzuhalten. Auch, dass ihre Mutter gerade den Termin für ihren freiwilligen Tod erhalten hat, bringt ihre Rechtgläubigkeit langsam ins Wanken. Nach einer Jagd auf Senioren lernt Florence den 19-jährigen Eric kennen, der das gesellschaftliche System ablehnt und seine Mitmenschen voller Mitgefühl betrachtet. Nach und nach beginnt sie ihr bisheriges Leben und Tun anzuzweifeln.

Philip Kerr orientiert seinen Jugendroman an Georgs Orwells berühmten Roman „1984“ und zeigt eine utopische Gesellschaft, in der die Menschen mit technischen Möglichkeiten kontrolliert werden und sich alles nur am Nutzen und an den Kosten für den Staat orientiert. Dabei wird das gesellschaftliche Umfeld in zahlreichen Details vorgestellt, wobei die distanzierte Emotionslosigkeit der Heldin gegenüber ihren Opfern schockiert.

Das Buch zeichnet eine interessante dystopische Gesellschaft, schildert aber die innere Entwicklung der Protagonistin, zu blass und zu wenig ausgearbeitet, um die völlige Umkehr ihrer Weltsicht nacherleben zu können. Der spannend erzählte Jugendroman überrascht mit zum Teil heftigen Darstellungen und bereitet Georg Orwells Thema eines dystopischen Kontrollstaates gezielt für ein jugendliches Publikum auf, wobei die Charaktere der einzelnen Protagonisten ein wenig schwach ausgeprägt erscheinen.

Philip Kerr, 1984.4. Übers. v. Uwe-Michael Gutzschhahn [Orig. Titel: 1984.4] ab 15 Jahren
Hamburg: Rowohlt Verlag 2021, 320 Seiten, 16,50 €, ISBN 978-3-499-21857-6

 

Weiterführende Links:
Rowohlt Verlag: Philip Kerr, 1984.4
Wikipedia: Philip Kerr

 

Andreas Markt-Huter, 05-10-2021

Bibliographie

AutorIn

Philip Kerr

Buchtitel

1984.4

Originaltitel

1984.4

Erscheinungsort

Hamburg

Erscheinungsjahr

2021

Verlag

Rowohlt Verlag

Übersetzung

Uwe-Michael Gutzschhahn

Seitenzahl

320

Preis in EUR

16,50

ISBN

ISBN 978-3-499-21857-6

Lesealter

Altersangabe Verlag

15

Zielgruppe

Kurzbiographie AutorIn

Philip Kerr wurde 1956 in Edinburgh geboren. 1989 erschien sein erster Roman „Feuer in Berlin“. Aus dem Debüt entwickelte sich die Serie um den Privatdetektiv Bernhard Gunther. Kerr lebte in London, wo er 2018 verstarb.