Ally Klein, Der Wal

ally klein, der walWarum sind manche Romane gegliedert und andere eine einzige Textwurst? – Beides zeigt das Ringen der Autoren um das Publikum. Manche versteigen sich dabei in Gegenden, wo es nichts mehr zu erklären, deuten oder gliedern gibt. Nicht so beim „Wal“, hier wird das Unbeschreibliche in ein überschaubares Erzählkonzept gegossen.

Ally Klein versucht ihren Roman um das Wesen der Kunst so offen wie möglich zu halten, gleichzeitig schlägt sie eine sanfte Lektüre-Struktur vor, die den ungeheuerlichen Stoff etwas übersichtlicher gestalten könnte. Wie bei einem Tafel-Dreiteiler wird ein Thema auf drei Flächen projiziert, die in einem schrägen Winkel zueinander stehen, sodass sich ein Gesamtbild aus mehreren Sehwinkeln ergibt.

„Der Wal“ ist ein Roman über ein kaum darstellbares Kunstwerk, seine Veränderung in der Zeitlosigkeit und seine Wirkung auf seine Gestalter und Betrachter. Im Mittelpunkt steht ein solitäres Gebäude am Rande eines Dorfes, das von den dünn angesiedelten Bewohnern schmallippig „Wal“ genannt wird. Dieses Gebäude von den Ausmaßen einer Halle und der Architektur einer geduckten Kreatur hat tatsächlich wegen der tranigen Oberfläche eine Ähnlichkeit mit einem Wal. Einst ist er ähnlich dem „Wohnkegel“ in Thomas Bernhards Roman „Korrektur“ (1975) als ausbetonierte philosophische Idee gebaut worden, aber sowohl Urheber als auch Konzept blieben der Umgebung verborgen.

Ein Zwischennutzer hat den Wal als Fotoatelier genutzt und verhunzt. Jetzt versucht ein gewisser Saul das Gebäude zu entkernen, um an das ursprüngliche Wesen des Kunstobjekts zu gelangen. In einem Dreischritt wird das Phantom für den Leser einer zeitlosen Gegenwart erschlossen.

Im ersten Kapitel (Saul) zeigt sich ein verwundeter, kaputter Künstler, wie er in der Hauptsache seine Psyche dem Wetter aussetzt, sich einsperrt, der Ortsgemeinschaft aus dem Weg geht und in langen Spaziergängen seinen Lebenslauf zu Ende zu bringen trachtet. Gleichzeitig entfernt er Unmengen von Fliesen aus dem Sarkophag, um einen unbekannten Urzustand wieder herzustellen. Beäugt wird er dabei von einer gewissen Q, die erleben muss, wie Saul im Wasser eines Wildteichs verschwindet. Was bleibt, ist ein Kleiderhaufen am Ufer und die finale Einschätzung Qs:

Man spricht von dir, als wärst du ein Gespenst. (38)

Zu einer Auferstehung der gruseligen Art kommt es freilich, als beim Begräbnis der Zwillingsbruder auftaucht und alle in die Knie gehen wegen der Ähnlichkeit mit dem gerade Bestattetem.

Der zweite Teil ist Keough gewidmet, sie ist die vorhin Q genannte Zeit- und Untergangszeugin. Der Zwillingsbruder figuriert als Ich-Erzähler, der über die Spiegelung durch Q die letzten Absichten seines Bruders zu erfahren versucht. Er selbst hat nur mehr Erinnerungen aus der Kindheit, als es darum ging, als Zwillingspaar jeweils eigene Identitäten zu entwickeln. Jetzt im Alter unterscheiden sich die beiden durch ihren Bart, der kurz vor dem Tod abgenommen werden muss.

Der dritte Teil ist mit (leer) überschrieben, das Kapitel hat zwar keinen Namen, dennoch wird die Leere der Kapitelseite beinahe körperlich spürbar. In dreißig Tagen räumt der Erzähler die Geschichte mit sich selbst, dem Bruder, Q und dem Wal auf. Dabei entpuppen sich die einzelnen Erinnerungsstücke als Fetische, die dem Erinnern einen gewissen Drall geben und gleichzeitig von bösen Überlegungen abhalten sollen. Der Wal entwickelt sich zu einer finalen Chiffre, die selbst bei genauester Rekonstruktion eine leere Hülle bleiben wird für etwas, was mit dem Tod verschwindet.

Immer flüchtiger wird dabei das Verhältnis zu Q, das wie ein Katalysator der Erinnerungen zwischen dem Brüderpaar hängt. Und über allem thront der Geist des Wals, der von außen unansehnlich und von innen unbewohnbar ist. Ein schwermütiger Fesselballon aus Beton versinkt allmählich und treibt dem Erdinnern zu. Die beiden Kapitel-Insassen sind still und wünschen, dass es endlich hell wird.

Der Wal zeigt unbarmherzig, dass das ideale Kunstwerk seine Schöpfer vernichtet, indem es als fleischgewordene Idee seinen Sinn verliert. Das „Un-Gebäude“ geht unbarmherzig mit seinen Betrachtern oder gar Benutzern um, als pure Hülle vermag es nicht den geringsten Schutz zu geben gegen gar nichts. Der Sinn des Wals besteht in seiner Spiegelung durch die Betrachter.

Für den Leser tut sich zu dieser Philosophie des merkwürdigen Gebäudes eine Analogie zum Roman auf. Auch dieser bietet keinerlei Schutz gegen etwas, er ist eine Hülle, die es beim Lesen zu entkernen gilt und den Leser zittrig mit der Hoffnung zurücklässt, dass es irgendwie außerhalb des Romans wieder hell wird. Kunstgeschichte und Romantheorie als Lichtkegel in einer immensen Dunkelheit!

Ally Klein, Der Wal. Roman, Erstausgabe
Graz: Droschl Verlag 2021, 174 Seiten, 20,00 €, ISBN 978-3-99059-074-4

 

Weiterführende Links:
Droschl Verlag: Ally Klein, Der Wal
Literatur Port: Ally Klein

 

Helmuth Schönauer, 23-08-2021

Bibliographie

AutorIn

Ally Klein

Buchtitel

Der Wal

Erscheinungsort

Graz

Erscheinungsjahr

2021

Verlag

Droschl Verlag

Seitenzahl

174

Preis in EUR

20,00

ISBN

978-3-99059-074-4

Kurzbiographie AutorIn

Ally Klein, geb. 1984, lebt in Berlin.