Volker Demuth, Fossiles Futur

volker demuth, fossiles futurWas für ein universell gekreuzter Begriff! Die Fossilien liegen in ferner Vergangenheit und vom Futur wissen wir nicht, wie lange es hält.

Volker Demuth verwendet für seine Lyrik die unerschöpflichen Begriffsfelder Landschaft und Zeit. In dieser Konstellation verschmelzen Fossilienforscher, Landschaftsarchitekten und Zukunftsdeuter zu einem, nämlich zum Lyriker. Der Autor definiert diese Felder als Kapitel-Unterschriften, die wie Insignien im Buch ausgelegt sind. „Die Gegenwart ist die reale Zukunft einer inexistenten Vergangenheit.“ (35) „Landschaften sind Speichermedien.“ (63)

Mit solchen Prämissen ausgestattet, tut sich ein Fossiles Futur auf, das sich nicht ernten lässt, sondern höchstens mit gedichtähnlichen Notizen im Gedächtnis verankert werden kann, sauber austariert zwischen Emotion und Intellekt.

Denn schon der Ausdruck Veduten, mit dem die Eingangssequenz eingegrenzt ist, deutet auf ein intellektuelles Emoticon hin. In einer Vedute sollte ursprünglich ein Stück Landschaft oder Gebäude als unverwechselbar eingescannt werden, wie es heute „Google Street View“ macht. Dass dabei die Emotion ins Spiel kommt, versteht sich von selbst, denn die Jahreszeit der Beschreibung ist oft eine andere als die der Rezeption. Und die Sinnesorgane des Veduten-Anlegers sind anders ausgereizt als jene, mit denen der Leser die Spuren dieser geheimnisvollen Bilder „erschnüffelt“.

An den Nägeln „wechselnde Veduten“ sind Städteporträts von Lissabon, Buenos Aires, Wien oder Syracus aufgehängt. Dabei treten neben Beschreibungen einer Stadt als soziale Siedlungsfläche konkrete Kreuzungen oder Verknüpfungen auf die Rampe, so dass die jeweilige Konzeption als Kupferstich, Ausgrabung oder Prospektfoto zusätzlich individualisiert als Ikone abgerufen wird. Stadtbilder brauchen neben den vielen Bildern, mit denen Hoch- und Tiefbauingenieure ihr Treiben koordinieren, jeweils diese Ikonen, die dann zum Stadtwappen werden. In Berlin wird bereits in der Überschrift auf das Westend hingewiesen, das die Stadt einmalig macht, in Wien ist es die Neulinggasse bei Wind.

Das lyrische Element liegt in diesem Wechselspiel von Spielfläche als Spielbrett und Bildfläche als Erinnerungsmuster.

Über Rom heißt es,

Blind vor Rom, sehe ich Rom nicht, / habe es nie gesehen. (16)

Das lyrische Ich versickert im eigenen Material über die Stadt und wird so ein Stück Stadtdepot von Rom. Die Annäherungsweisen sind bei einem Gedicht und einer Stadt ähnlich, darauf haben etwa Autoren wie Michel Butor in Variationen der „Stadt als Text“ hingewiesen.

Nach diesem Entree, worin das Verhältnis Gegenstand und Text geklärt wird, geht es erstmals um das „fossile Futur“. In drei Ansätzen taucht dieser Begriff auf, wobei unter fossiles „Futur II“ durchaus das zweite Futur mitgedacht werden kann, wie es als grammatikalische Zeitgestaltung in Erscheinung tritt.

In einem langen Poem wird in zehn Abschnitten, die Gesetzestafeln aus Mammutknochen entsprechen, die Idee besungen, dass die Eiszeit einmal die Zukunft gewesen ist, und die jetzige Zukunft wieder zur Eiszeit werden wird, wenn sie zuvor ausgiebig verglüht ist.

Ein Ort ohne Vorort. Eiswind weht, / Um den Bahndamm besendürrer Ginster. / Die Abstände zwischen den Zügen / rechnen dir den Tag zusammen. (25)

Es genügen wenige Akkorde, um diesen Zustand eisigen Futurs in Szene zu setzen. In einer verlorenen Gegend mit ausgedünnter Vegetation und ausgedünntem Traffic verliert sich jeder Protagonist zwischen den flachgepressten Zeitschichten des Anthropozäns.

Die einzelnen Gedichte sind ausgelegt und abgesteckt wie Fundquadrate, in jedem Scann löst sich eine ältere Zeitschicht aus der Erde. Dem Ich der Gegenwart zeigen sich alle Schichtungen übereinander, der lyrische Scann wird zur puren Datenmenge, die in einem Augenblick der Meta-Synchronität explodiert.

Eine längere Episode widmet sich den „kretischen Scherben“. Das Unterfangen einer gigantischen Ausgrabung endet wie meist an solchen archäologischen Hotspots in einem Parkplatz für touristische Zwecke.

Das Jahrhundert der Gruben / Kartoffeln Marmor Schädelknochen / endete auch hier zwischen dem Manövrieren / von Autos beim Einparken / […] / Die Zeit passt sich selber ab. (41)

Zwischen den „Nachgrabungen“ für ein Futur zwei und drei ist das sogenannte „Hinterland“ ausgebreitet. Die Helden dieser Gedichte sind Außenposten, Nebenstrecken, postpolitische Provinz, Dorfweg oder märkische Metamorphosen, eine leise Spur in jene amorphe Gegend, worin der Autor fallweise lebt und an seinen Sprachfeldern gräbt.

Und nichts wird sein, die Spuren, das monotone / Imperfekt vom Körperbau zu erlösen. (74)

Volker Demuths Gedichte erzeugen einen melancholischen Eindruck vom Fortgang der Welt, diese scheint nicht nur aus der Gegenwart hinaus zu schreiten, sondern von uns fortzugehen. Im Kreislauf aller Zeitgefühle ist es nur logisch, wenn wir das Futur dort suchen, wo es sich einst hoffnungsfroh eingenistet hat, in der Tiefe unserer Landkrusten. Während die Gedichtgrabungen stets neue Erkenntnisschichten freilegen, schaffen sie auch Platz für seltsame Gedanken. Was würden die Fossile wohl heute denken, wenn sie als Erdöl ausgegraben werden? Was sollen wir vom Futur denken, wenn man uns dereinst darin ausgräbt?

Es ist diese bodenständige Vertrautheit mit dem Vagen, die diese Gedichte so hilfreich machen. Man ist als Leser zur Ruhe gekommen, wenn man sich als Teil eines Erinnerungsgeländes niederlegt wie ein Stein.

Volker Demuth, Fossiles Futur. Gedichte
Wien: Passagen Verlag 2021, 96 Seiten, 10,90 €, ISBN 978-3-7092-0455-9

 

Weiterführende Links:
Passagen Verlag: Volker Demuth, Fossiles Futur
Wikipedia: Volker Demuth

 

Helmuth Schönauer, 27-05-2021

Bibliographie

AutorIn

Volker Demuth

Buchtitel

Fossiles Futur. Gedichte

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2021

Verlag

Passagen Verlag

Seitenzahl

96

Preis in EUR

10,90

ISBN

978-3-7092-0455-9

Kurzbiographie AutorIn

Volker Demuth, geb. 1961, Professor für Medientheorie, lebt in Berlin.