Juliane Adler / Martin Winter (Hg.), Brett voller Nägel.

juliane adler, brett voller nägelWenn dir beim Aufschlagen eines Buches alles fremd ist, lies es wie ein Lexikon!

Die chinesische Lyrik-Anthologie „Brett voller Nägel“ ist im ersten Anriss dermaßen fremd, dass nicht einmal der Tipp mit dem Lexikon weiterhilft. Aber das Herauslesen diverser Bausteine ergibt dann doch einen zweifachen Lesenutzen. Einmal erfährt man sehr viel über ein literarisches Feld, das für die meisten eine weiße Wüste im Hirn ist, und zum anderen läuft ständig die Frage mit, ja wie lesen wir eigentlich in Österreich eine Lyriksammlung?

Die Methode Lexikon-Lektüre garantiert, dass das Buch immer klüger bleibt als der Leser, weil ja nur Teile gelesen werden. Was immer man liest, es bleibt noch genug übrig, das auch zu entdecken wäre.

Juliane Adler und Martin Winter stellen rare chinesische Lyrik vor, die zumindest eine Gemeinsamkeit hat: sie ist politisch akzeptiert, und ihre Autorinnen sind sogar manchmal im Ausland unterwegs, wie ein Gedicht über Wien zeigt, wo man man bei jeder Gelegenheit deutsches Bier trinkt, das man als Chinese erst geschmacklich ausreizen muss. (113)

Diese Weltoffenheit resultiert aus einer studentischen Neugier, die einst dem Gründer der NPC-Lyrik widerfahren ist. Diese Abkürzung bedeutet einerseits frech das chinesische Parlament, das einmal jährlich für ein paar Tage zusammentritt, und andererseits „Neue Poesie Chinas“, wie der New Poetry Canon abgekürzt wird. Dieser Canon tritt täglich irgendwo ans Licht der Öffentlichkeit. Im Sinne eines täglichen Gedichtes oder Gedichtes zum Tag schicken Autorinnen ihre Texte an eine Redaktion, die sich vor dreißig Jahren als „First Line“ gegründet hat.

Der Initiator Yi Sha erläutert dieses Projekt anhand des eigenen Gründermythos, er hat nämlich frech ein Gedicht nach Amerika geschickt, wo es in einer Zeitschrift abgedruckt worden ist. Seither gilt das als Wesensmerkmal der NPC, dass etwas relevant ist, wenn es unter dem Radar der Politik eine Resonanz im Ausland schafft.

In seinem Vorwort Stellt Martin Winter jenes System von Torwächtern vor, das in Form von Diskurs und Selbstkorrektur jene Texte an die Öffentlichkeit bringt, die bei Veranstaltungen quer durch den Kontinent auftrittstauglich sind.

Die Anthologie ist alphabetisch nach Autorinnen geordnet, in der deutschen Übersetzung gibt es dann so seltsame Dichter wie A Ti, A Wen, A Wu, A Yu, AAA (3A). Die Biographien der 81 Autorinnen des Bandes beschränken sich auf Zweizeiler, die meist das Geburtsdatum und den Ort des Studiums nennen, ergänzt mit Mitgliedschaften oder Genres, mit denen sie hantieren. Der erste Band „Brett voller Nägel“ kümmert sich um das Alphabet von A-J.

Die Originaltexte sind in Sammelbänden der NPC erschienen oder entstammen Internetquellen.

Als Leser, der nicht chinesisch kann, reduziert sich die Information natürlich um die Hälfte, unsereins kann die Original-Texte nur als wunderschöne Kalligraphien würdigen und muss darauf hoffen, dass die Übertragung ins Deutsche ein bisschen was vom Sound des Originals wiedergibt.

So erscheinen dann auch die meisten Gedichte als lyrische Inhaltsangaben, die das Arrangement zeigen, worin sich die lyrische Figur bewegt. Dabei wird auf spezifisch chinesische Parameter zurückgegriffen, die nur als Leerstellen zu erahnen sind und die oft in seltsame Wortungetüme münden, die allein schon in ihrer Wortwucht reine Lyrik sind.

Beispielsweise wird die Situation des „Helden in Friedenszeiten“ (65) durchaus plastisch, wenn er eine Wohnung „neben einer Armeefabrik“ kauft und täglich geehrt wird durch Schüsse, die dem Munitionsdepot entweichen. Wie im Krieg drohen täglicher Beschuss und die Aussicht auf Lazarett, aber er wird nie einen Orden dafür bekommen.

Die Militarisierung der Gesellschaft geht bis in die Semantik hinein, wenn einem vor Überraschung ins Stottern geratenen Erzähler unterstellt wird, dass er mit dem „Re, Re. Re“, an dem sich sein Sprechorgan aufgehängt hat, nur Revolution gemeint sein kann.

Der (hoffentlich berühmte) AAA reizt das Thema „Wahl“ insofern aus, als er von einem anonymen Querkopf berichtet, der auf dem Stimmzettel ein Gewehr ohne Patronen gezeichnet hat. (45)

Diese Gedichte verführen zum Träumen. Während man auf dem romantischen Tischtuch das Picknick-Set voller Landschaft, Herbst und Depression auslegt, ordnet man auf dem politischen Linnen das Geschirr nach Zerbrechlichkeit soziologischer Begriffe, Revolution, Armee, Helden. Sie alle geben schöne Träume wieder, je nachdem mit welcher Jahreszahl man sie verbindet.

Als Dichter der Chronik sieht sich A Wu, wenn er seinen Texten einfach Jahreszahlen voranstellt, die allein schon als Inschrift schwere historische Ereignisse vermuten lassen. 1988 / 1971 / 1979 / 1988 /1989 auf chinesisch gedacht, ergibt wahrscheinlich den politischen Hintergrund, der NPC ausmacht.

Die Anthologie ist unerschöpflich und steckt einem tatsächlich mit jeder Seite ein Briefchen mit einer geheimen Botschaft zu. Der große Nutzen besteht darin, dass der Blick auf die Dinge ein anderer wird, und auch die Poesie ist so ein Ding, in dem Vorder- und Hinterseite ineinander überlaufen. Da niemand imstande ist, die lyrische Seele als solche zu finden, gibt es auch keine chinesische Seele dafür zu finden.

Vielleicht liegt alles, was wir als Nachricht empfinden, als Gedicht für uns parat, vielleicht ist Lyrik nichts anderes als eine ungewöhnliche Lesart von Nachrichten.

Juliane Adler / Martin Winter (Hg.), Brett voller Nägel. NPC-Anthologie. (New Poetry Canon), Band 1: A-J. Gedichte. Chinesisch/Deutsch, übersetzt von Martin Winter
Wien: Edition Fabrik Transit 2021, 507 Seiten, 24,00 €, ISBN 978-3-903267-00-8

 

Weiterführender Link:
Edition Fabrik Transit: Juliane Adler / Martin Winter (Hg.), Brett voller Nägel

 

Helmuth Schönauer, 20-05-2021

Bibliographie

Buchtitel

Brett voller Nägel.

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2021

Verlag

Edition Fabrik Transit

Herausgeber

Juliane Adler / Martin Winter

Reihe

NPC-Anthologie. (New Poetry Canon), Band 1: A-J. Gedichte

Übersetzung

Martin Winter

Seitenzahl

507

Preis in EUR

24,00

ISBN

978-3-903267-00-8

Kurzbiographie AutorIn

Juliane Adler, geb. 1947 in Schwarzenberg im Erzgebirge, lebt in Wien. Mitbegründerin des Literatur- und Kunstvereins fabrik.transit. /

Martin Winter (Wei Mading), geb. 1966 in Wien, ist ein Übersetzer, Sinologe und Lyriker.