Matthias Schönweger, Der Augenblick – Der Wimpernschlag

matthias schönweger, der augenblickManche Bücher nehmen die Aufgabe, einen haptischen Zusatzgenuss zu vermitteln, so ernst, dass sie beinahe in eine Skulptur ausarten. Solche Bücher kommen dann nicht mit der Post, sondern mit dem Sack-Roller auf den Schreibtisch. Man ist im ersten Durchgang vor allem mit dem Blättern und räumlichen Zuordnen des Textes im Raum beschäftigt, man fühlt sich eher unter einem Triumphbogen stehend, als vor einem Buch sitzend.

Matthias Schönweger wählt die Gedichtform immer dann, wenn er das Gedicht sprengen will. Bei ihm haben die Wörter mehrfache Bedeutungen, ein Gedicht sprengen heißt also wirklich, es in die Luft zu jagen. Zu diesem Zweck werden die Wortteile in Großbuchstaben gesetzt und fliegen durch das unter Druck gesetzte Papier und hinterlassen Schmauchspuren, Einschläge, Wortkerben, die noch lange anhalten, wenn das Gedicht selbst schon verschmaucht ist.

BENUTZE / KEIN // DEO // GRATIAS (118)

Dieses Inschriften-Vokabular ermöglichst es den einzelnen Fügungen, an jeder glatten Stelle zu nisten und im Sinne einer Pionierpflanze den Bedeutungsträger heimzusuchen und zu erledigen. Die einzige Kraft, die beim Lesen dieser Lyrik angewendet werden muss, ist die Schwerkraft. Das Auge gleitet nach unten und saugt dabei Partikel auf, die das bereits Angekündigte wieder auflösen oder in eine neue Bedeutungs-Emulsion versprudeln.

Im Klappentext sind quasi als Gebrauchsabweisung die diversen Einspeisungen aufgezählt, mit denen der Autor sein lyrisches Giga-Werk aufgefüllt hat.

Nachtkästchenlektüre mit episch und dramatisch durchwachsener Lyrik, mit regionalen Einsprengseln und gut nachbarlichen Einschlüssen, in Italiano oder im Burggräfler Dialekt, in meiner und der Eltern MUND ART.

Die Gedichte haben dann auch einen großen Atem, eine weite Ansprache und einen Sound, der für die Öffentlichkeit gedacht ist. Das lyrische Ich fuchtelt meist hinter einem Rednerpult die lyrischen Passagen heraus, und oft sind die heroischen Begriffe so kurz und kräftig, dass sie stimmlos ausgespuckt werden müssen. Thematisch spielt alles eine Rolle, was sich zu einem großen Gestus hinaufschwingen möchte. Patriotismus, Heimat, Landwirtschaft, Zweisprachigkeit, Tourismus, und immer wieder Religion.

Die lyrische Lieblingsszene des Autors ist der archaische Moses, der aus dem Nebel tritt und auf zwei Tafeln alles aufgeschrieben hat, was von Bedeutung ist. Sätze direkt aus dem Jenseits, Befehle von Gott, Floskeln zum Eintreiben von Geld, wer so etwas im Kasten hat, dem gehört vielleicht die ganze Welt. In diesem heroischen Ton machen auch die Kleinigkeiten des Alltags auf groß, manchmal wirkt geradezu das sanfte Gesetz von Adalbert Stifter, wenn Fliegen und Kuhfladen eine Symbiose mit Vorder-, Mittel- und Hintergrund eingehen. (233)

Wie bei jeder großen Lyrik kommt es vor allem auf den Gestus an, mit dem sie aufbewahrt und durch die Zeiten getragen wird. Dieses fette Buch vom Augenblick wird man immer wieder zur Hand nehmen, sich in eine Pose werfen, um zwei, drei Seiten daraus zu lesen. Die Gedichte sind allesamt kurz wie ein Augenblick, so dass man unendlich viele Gedichte in einem einzigen Gegenwartsschub lesen kann.

Mach dir keinen Kopf / hast schon einen / zweiten dritten vierten / habe die Hydra zum Abschlagen (524)

Tatsächlich, sobald man eine Seite aufschlägt zischen daraus schon die Lyrik-Hydra hervor, man kann sie nur eindämmen, indem man das Buch schnell wieder zuschlägt.

Matthias Schönweger hat den größten Wimpernschlag der literarischen Welt komponiert.

Matthias Schönweger, Der Augenblick - Der Wimpernschlag. Gedichte, Seiteanseite
Meran: Edizioni Alphabeta Verlag 2017, 574 Seiten, 24,00 €, ISBN 978-88-7223-303-0

 

Weiterführende Links:
Edizioni Alphabeta Verlag: Matthias Schönweger, Der Augenblick
Lexikon Literatur in Tirol: Matthias Schönweger

 

Helmuth Schönauer, 12-10-2018

Bibliographie

AutorIn

Matthias Schönweger

Buchtitel

Der Augenblick - Der Wimpernschlag. Gedichte, Seiteanseite

Erscheinungsort

Meran

Erscheinungsjahr

2017

Verlag

Edizioni Alphabeta Verlag

Seitenzahl

574

Preis in EUR

24,00

ISBN

978-88-7223-303-0

Kurzbiographie AutorIn

Matthias Schönweger, geb. 1949 in Tscherms, lebt in Meran.