Die Anfänge der Kinder- und Jugendliteratur

titelbild_kinder- und jugendbücherSeit wann werden im deutschsprachigen Raum eigentlich Bücher für Kinder und Jugendliche geschrieben und welche Ziele wurden mit diesem neuen Genre des literarischen Schaffens verfolgt?

Am Anfang der Kinder- und Jugendliteratur in der Neuzeit steht die Pädagogik. Schon in den mittelalterlichen Klöstern haben Kinder und Jugendliche durch abschreiben von Texten das Schreiben gelernt. Dabei hat es sich meist um lateinische, religiöse Texte gehandelt, also nicht spezifisch für Kinder und Jugendliche angefertigte Schriften.

Kinder- und Jugendliteratur als Unterrichtsmaterial

orbis%20pictum.jpgAls erstes Kinderbuch im deutschsprachigen Raum gilt der sogenannte „Orbis sensualium pictus“ (dt. die sinnlich wahrnehmbare Welt) aus dem Jahr 1658, von Johann Amon Comenius (1592 – 1670), einem Philosophen, Pädagogen und Prediger der Böhmischen Brüder. Dieses „Kindersachbuch“ war sowohl für den Schulgebrauch als auch als Freizeitlektüre für Kinder gedacht war.

In 150 Abschnitten vermittelt das Buch sowohl verschiedene Wissensgebiete aus der Natur und Gesellschaft als auch eine religiöse Bildung. Jeder Abschnitt setzt jeweils aus einer Doppelseite mit einer Illustration (Holzschnitt) sowie einem zwei- oder mehrsprachigen Text in Latein und meist der Muttersprache der Schüler zusammen. Ziel des Buches war die Erziehung, Bildung und religiöse Unterweisung von Kindern und Jugendlichen.

 

In der Einleitung werden in lateinische und deutscher
Sprache die pädagogischen Ziele des Kinderbuches erläutert.

Bild: Wikimedia: „Orbis sensualium pictus“

 

Die Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur in der Aufklärung

Mit der Zeit der Aufklärung betreten wir eine entscheidende Phase für die Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur. Im letzten Drittel des 18. Jahrhundert beginnt sich eine eigenständige und quantitativ bemerkenswerte Kinder- und Jugendliteratur herauszubilden, wobei das gezielte Schreiben für Kinder nun Teil der kulturellen Praxis wird..

Schriftsteller und Pädagogen beginnen gezielt Bücher, Zeitschriften und Almanache (thematisch abgegrenzte Jahrbücher) für Kinder und Jugendliche zu schreiben und zu veröffentlichen und untermauern ihre Art für Kinder und Jugendliche zu schreiben auch theoretisch.

Entdeckung der Kindheit in der Aufklärung

Was ist passiert? Wie ist es zu dieser außergewöhnlichen Entwicklung gekommen? Grundlegend dafür war der große Einfluss des Denkens der Aufklärung. Die Aufklärung „entdeckt“ quasi die Kindheit als eigenständige Lebensphase. Kinder werden nicht mehr als Sonderform des Erwachsenen betrachtet, sondern als „Kinder“, ein Umstand, der sich aus einem neuen Menschenbild ergibt. Das Individuum wird in seiner Entwicklung nicht mehr durch die gesellschaftliche Stellung als vorbestimmt und festgelegt, betrachtet. Es ist der Ausbruch aus der alten Feudalordnung. Die persönliche Entwicklung des Menschen wird nun als offen verstanden. Es ändert sich grundsätzlich das Verständnis dafür, was ein Mensch ist. Dem Menschen kommt nun der Status einer Person zu.

Dabei weitet sich der ursprünglich eingeschränkte Kreis derjenigen Menschen, die als Person betrachtet wurden, im Laufe der Aufklärung immer mehr aus. Als Person wird zunächst ein Mensch verstanden, der selbst über seine Entwicklung bestimmen kann und dies auch tut. Frauen, Kinder und Sklaven galten damit nicht als Personen.

Für Kinder werden prinzipiell Entwicklungsmöglichkeiten anerkannt. Ihre grundsätzliche Selbstbestimmung wird in Aussicht gestellt. Sie benötigen in dieser Entwicklungsphase aber der Fürsorgepflicht der Erziehungsberechtigten.

Rousseau als Wegbereiter der Kinder- und Jugendpädagogik

rousseau.jpg Wikimedia: Jean-Jacques Rousseau (Bild: MLWatts)

 

 

 

Der einflussreichste Philosoph der Aufklärung für die Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur war Jean-Jacques Rousseau. In seinem Erziehungsroman "Émile oder über die Erziehung" betont er die Bedeutung, die individuellen Anlagen und Fähigkeiten der Kinder zu entwickeln.

Kinder sind für ihn im Lernen begriffen und unterscheiden sich von Erwachsenen. Er will sie von den Erziehungsvorstellungen der Erwachsenen fernhalten und propagiert im Grunde eine negative Pädagogik.

„Junger Erzieher, ich predige dir eine schwierige Kunst; du sollst lernen ohne Vorschriften die Erziehung zu leiten, und deine Aufgabe durch Nichtstun zu erfüllen. Ich gebe zu, dass diese Kunst für dein Alter Schwierigkeiten hat; sie ist nicht geeignet, deine Talente von vorn herein glänzen zu lassen, noch dir bei den Vätern ein großes Ansehen zu verschaffen, aber sie ist die einzige zum Ziele zu gelangen. Nie wirst du im Stande sein, Weise zu bilden, wenn du sie nicht vorher in ihrer natürlichen Wildheit hast aufwachsen lassen. Dieser Erziehung huldigten die Spartaner.“
Jean Jacques Rousseau: Emile oder Ueber die Erziehung - Erster Band - Kapitel 18

Die pädagogische Tätigkeit soll so gestaltet werden, dass sie sich selbst überflüssig macht. Rousseau spricht sich interessanterweise dezidiert gegen das zu frühe Lesen von Kindern aus, das er als „Geißel der Kindheit“ kritisiert. Er kritisiert aber auch fiktionale Erzählungen wie z.B. Fabeln:

„Wie kann man so blind sein und die Fabeln die Morallehre der Kinder nennen, ohne zu bedenken, dass die Fabel, während sie unterhält, die Kinder täuscht. Während die Lüge sie verführt, entgeht ihnen die Wirklichkeit. Die Mittel, mit denen man ihnen den Unterricht angenehm macht, hindern sie, Nutzen daraus zu ziehen.“ Rousseau, Emile

Rousseaus Schriften üben einen entscheidenden Impuls auf die Kinder- und Jugendliteratur der Zeit der Aufklärung aus. Seine Einsichten in die kindlichen Lern- und Entwicklungsprozesse finden sich in der zeitgenössischen Kinder- und Jugendliteratur wieder.

Reformpädagogik – Johann Heinrich Campe

Wegbereiter der von der Aufklärung inspirierten Reform der Pädagogik sind Joachim Heinrich Campe und Johann Basedow.


campe.jpgBild: Wikimedia: Joachim Heinrich Campe (Foto: Achim Raschka)

 

 

Beide Pädagogen verfolgten mit ihren Kinder- und Jugendschriften keine literatur-ästhetischen Ambitionen. Ihr Ziel war es, die Bildungsziele der Aufklärung kinder- und jugendgerecht zu vermitteln. Dazu wurden keine eigenen Geschichten geschrieben, sondern vorhandene Werke pädagogisch bearbeitet.

Das bedeutendste, einflussreichste und wohl auch verbreitetste deutschsprachige Kinder- und Jugendbuch der Aufklärung ist Campes Werk „Robinson der Jüngere“ (1779).

Campe versucht dabei Rousseaus Werk „Émile“ mit Daniel Defoes Robinson Crusoe zu verbinden. Das Kinderbuch wird ganz als pädagogische Bühne inszeniert. Campe bettet die Geschichte rund um den schiffbrüchigen Robinson, der mit nichts als seinen Kleidern auf dem Leib auf einer einsamen Insel strandet, in eine spezielle Rahmenhandlung ein.

Ein Erzieher und Familienvater sitzt jeden Abend mit seiner Familie (Tochter Lotte und Frau) und seinen Schulzöglingen zusammen und erzählt eine Episode aus dem Leben des jungen schiffbrüchigen Robinson.

Bei der Geschichte handelt es sich um einen typischen Entwicklungsroman. Der junge, ungehorsame Robinson erleidet Schiffbruch und in der Wildnis allmählich zu Tugend und Verstand gelangt.

Campe vermittelt ein Erziehungsziel, das sich vor allem auch an die Erwachsenen richtet. Am Beispiel des erzählenden Familienvaters zeigt er nämlich, wie pädagogisch richtige Unterweisungen und familiäre Beziehungen aussehen sollten. Im Vorwort des Buches heißt es:

„Ich hoffte nämlich, durch eine treue Darstellung wirklicher Familienszenen ein für angehende Pädagogen nicht überflüssiges Beispiel des väterlichen und kindlichen Verhältnisses zu geben, welches zwischen dem Erzieher und seinen Zöglingen notwendig obwalten muss.“ (Robinson der Jüngere, S.32)

Der eigentliche Zweck der Kinderliteratur der Aufklärung liegt somit knapp formuliert in der Belehrung. Diese soll auch durch Unterhaltung und Verständlichkeit unterstützt werden. Dabei ist es wichtig, bei der Auswahl, bei der Bearbeitung und beim Schreiben der Texte die Aufnahmefähigkeit und das Bedürfnis der Kinder nach Unterhaltung zu berücksichtigen.

Bei aufgeklärten Pädagogen wenig beliebt hingegen waren Märchen, Sagen, Volksbücher und Kinderreime. Diese würden Kinder täuschen, belügen und verführen und sie von der Wahrheit entfernen. Diese Haltung wird sich in der Romantik, die sich als Gegenbewegung zur Aufklärung versteht, dramatisch ändern.

Die Romantik

Die Romantik tritt auch in der Kinder- und Jugendliteratur als Gegenbewegung zu den pädagogisch-didaktischen Zielen der Aufklärung auf. Träger der Bewegung sind nicht mehr die schreibenden Pädagogen, wie in der Aufklärung, sondern Schriftsteller, die von einer idealisierten Kindheitsvorstellung geprägt sind.

Belehrende Gattungen und Kategorien, wie sie in der Aufklärung bevorzugt waren, werden nun abgelehnt. Märchen, Sagen, Volkslieder, Legenden und Volksbücher werden wieder hochgeschätzt. Die Romantiker sehen die gerade entdeckte Kindheit durch die Vernunftforderungen der Aufklärung ebenso bedroht, wie die Volkspoesie. Beide sind zwei Seiten derselben Medaille.

 

gebrüder grimmWikimedia: Doppelporträt der Brüder Wilhelm Grimm (links) und Jacob Grimm von Elisabeth Jerichau-Baumann, 1855 (Foto: Alonso de Mendoza)

 

 

Die berühmte Märchensammlung der Gebrüder Grimm ist nur ein prominentes Beispiel von vielen. Während die Gebrüder Grimm die Volksmärchen möglichst rein sammeln wollen, glauben Achim von Arnim und Clemens Brentano die Volkspoesie bearbeiten zu müssen, um sie für die Gegenwart zu retten. Hier kommt der Gegensatz volkskundlich – dichterisch zum Tragen.

Während die Philanthropen der Aufklärung an den pädagogisch-didaktischen Aspekten und den entwicklungspsychologischen Erkenntnissen Rousseaus interessiert waren, ging es den Romantikern vor allem um dessen utopische Züge.

Der romantische Einfluss auf die Literatur für Heranwachsende hat sich, wenn man von den Märchen einmal absieht, als schwach erwiesen. Die aufklärerische, lehrhafte Tradition ist im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur ist bis zum 20. Jahrhunderts tonangebend geblieben. Die gegensätzlichen Konzepte der Aufklärung und der Romantik aber werden mit Abwandlungen bis in die Gegenwart fortgetragen werden.

Kinder- und Jugendliteratur als ökonomischer Faktor

Veränderungen im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur ergeben sich im Verlauf des 19. Jahrhundert, als sich Bücher für Kinder und Jugendliche zu einem ökonomischen Faktor entwickeln. In Bezug auf die Inhalte und ihre pädagogische Vermittlung ergibt sich damit zwar eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber den pädagogischen Instanzen. Nun steht vor allem der Geschmack der Käufer im Mittelpunkt, und die Käufer sind die Eltern mit ihren erzieherischen Vorstellungen.

 

Literaturtipp:
Gina Weinkauff / Gabriele von Glasenapp, Kinder- und Jugendliteratur. Standard Wissen Lehramt – Studienbücher für die Praxis, UTB Verlag, Stuttgart 2018 (ISBN 978-3-8252-4839-0)

 

Andreas Markt-Huter, 17-01-2019

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