Andrej Kurkow, Ukrainisches Tagebuch

In manchen Gesellschaften werden die Geschichtsbücher ständig gefälscht und umgeschrieben, so dass das einzig Verlässliche das Fiktionale ist, das die Schriftsteller als Zeitgenossen zu einem Sachverhalt entwickeln.

Andrej Kurkow hat die diversen Geschichtsumschreibungen der Sowjetunion und der Nachfolgestaaten von Klein auf gelernt und schon früh festgestellt, dass letztlich nur die Tagebücher als verlässliche, deklariert subjektive Quellen taugen.

Der Autor lässt anlässlich der dramatischen Umstände in der Ukraine neben seinem sogenannten litauischen Roman, an dem er gerade schreibt, ein Tagebuch mitlaufen, zumal seine Wohnung und sein Schreibzimmer jeweils ein paar hundert Meter vom Majdan-Platz in Kiew liegen.

Die Tageseintragungen zwischen November und April 2014 beginnen jeweils mit einer Wetterzeile, leichter Schneefall, Frostschicht, dünne Wolken, die das Global-Normale eines solchen Tages beschreiben sollen. Aber dann kommen die Nachrichten der letzten Nacht, geköpfte Journalisten, zusammengeschlagene Passanten, verschwundene Zufallsopfer suchen jeden Tag nach einer Erklärung, die es auf die Schnelle nicht gibt, weil das ganze Land entgleist ist.

In einer privaten Analyse wird das Alltägliche durch die gemeine Lage ins Groteske gerückt. Der Vater des Autors stört, weil ihm die Kopfhörer kaputt gegangen sind, die halbe Nachbarschaft mit lautem Fernsehen, dabei ist die Revolution vor der Haustüre eindeutig lauter. - Eine Schriftsteller-Gruppe jammert um ein Stipendium, während am Majdan-Platz Lebensmittel zusammengetragen werden, um die Demonstranten beim Durchhalten zu unterstützen. - Eines Tages haben alle in der Gegend ihre Autos in Sicherheit gebracht, nur der Wagen des Autors steht wie ein Mahnmal gegen den Vandalismus noch im Hof.

Solche skurrilen Beobachtungen führen dann auch zu Überlegungen eines Zeitgenossen, der weiß, dass am Abend die Lage schon wieder anders sein kann. Erinnerungen an die sechziger Jahre tauchen auf, wo in der Westukraine immer noch gegen die Sowjetmacht im Stile von Partisanen vorgegangen wird.

Die offizielle Geschichtsschreibung versucht jeden Tag  ordnend einzugreifen, aber in manchen Szenen handelt es sich bei ukrainischen Vorgängen um reines Verbrechertum, das entsteht, wenn das Land schutzlos den Oligarchen ausgeliefert ist. Und auch der Westen kassiert jetzt schon, Microsoft ändert über Nacht die Zugänge zum Betriebssystem, damit sie alle wieder neu in Bill Gates investieren müssen.

In einem Glossar „zur Orientierung“ beschlagwortet Andrej Kurkow Essay-mäßig die wichtigsten Personen und Vorgänge, den Holodomor etwa, als 1932 die halbe Ukraine planmäßig zum Verhungern gebracht wurde, unser Nine-Eleven, nennt es der Autor.

Viele Träume bleiben an diesen Tagen auf der Strecke oder sind einfach falsch angelegt, wie etwa die Assoziation mit der EU. - Aufschreiben, reden, planen, an diesen Tagen kommt die wahre Aufgabe des Schriftstellers zum Tragen, weit weg von der Tändelei der Krimi-Schreiber.

Andrej Kurkow, Ukrainisches Tagebuch. Aufzeichnungen aus dem Herzen des Protests. A. d. Russ. von Steffen Beilich.
Innsbruck: Haymon 2014. 280 Seiten. EUR 17,90. ISBN 978-3-7099-7154-3.

 

Weiterführende Links:
Haymon-Verlag: Andrej Kurkow, Ukrainisches Tagebuch
Wikipedia: Andrej Kurkow

 

Helmuth Schönauer, 09-06-2014

Bibliographie

AutorIn

Andrej Kurkow

Buchtitel

Ukrainisches Tagebuch. Aufzeichnungen aus dem Herzen des Protests

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2014

Verlag

Haymon Verlag

Übersetzung

Steffen Beilic

Seitenzahl

280

Preis in EUR

17,90

ISBN

978-3-7099-7154-3

Kurzbiographie AutorIn

Andrej Kurkow, geb. 1961 in St. Petersburg, lebt in Kiew.