Constantin Schwab, Das Journal der Valerie Vogler

constantin schwab, das journal der valerie voglerBald wird die Erde so vermüllt sein, dass es keinen Flecken mehr gibt, auf dem man ein Selfie mit unberührter Natur machen kann. Auch die Literatur leidet schon unter dem Mangel an unberührten Plätzen, worin sich die Seele in sich selbst austoben kann. Als letzte Refugien für kranke Psychen gelten Patagonien und Spitzbergen. Das früher weit verbreitete Sibirien ist ja momentan sanktioniert.

Constantin Schwab nennt seinen Roman „Das Journal der Valerie Vogler“. Mit diesem Genre versucht er einen halbwegs realistischen Rahmen für etwas abzustecken, was gerade dabei ist, jeglichen Rahmen abzuwerfen: Die absolute Kunst.

In einer vagen Erzählstruktur ist die Journalistin Valerie Vogler eingeladen, die legendäre Künstlergruppe AURORA auf Spitzbergen zu besuchen, wo diese ihr permanentes Winterquartier aufgeschlagen hat. Die Gruppe besteht aus vier Künstlern, die sich ähnlich einer Band aus den 1960er Jahren mit viel Mythos und rätselhaften Sagern umgeben, sie sind vermutlich fetz-reich geworden und machen nun in der Eiswüste Spitzbergens auf karg, leer, einsam und peripher.

Eine knappe Woche verbringt die Ich-Erzählerin im Eisbunker, der aus sieben Räumen besteht, wobei der siebte nicht betreten werden darf. Auch sonst gibt es Spielregeln, die zum kultischen Gehabe gehören, in der Werkstatt herrscht Arbeitskittel-Pflicht und die Werkstatt darf ohne Grund nicht verlassen werden.

Ehe die Erzählerin mit den Künstlern in individuelle Gespräche eintritt, gilt es noch, das sogenannte Manifest zu lesen, das aus acht Punkten besteht. Dieses Manifest lässt sich auf alle Künste anwenden und gilt vielleicht auch für Romane.

1. Das Werk steht immer an erster Stelle. / 2. Das Werk hat immer recht. / 3. Kunst kommt von Kollektiv […] / 8. Der eigentliche Held ist die Werkstatt. (22)

Umgelegt auf die Literatur ergibt sich daraus ein schöner Gruß an die Literatur der Arbeitswelt, den Bitterfelder Weg oder das Seufzen des Kombinats Schwarze Pumpe.

Valeries ideologischer Zugang hält sich freilich an das romantisierte Schicksal von Edvard Munch, der mit seinem Allround-Schrei für jede angeschlagene Seele ein willkommener Haltegriff ist.

Ein Künstler muss aus jedem Gefühl schöpfen! (35)

Während der nächsten Tage entstehen allerhand Kunstwerke, wobei oft der Vorgang das eigentliche Ergebnis ist. Also das Aufspannen der Leinwand ist Kunst, nicht die aufgestellte Stoffbahn selbst.

Statt in Interviews zeigen sich die Künstler in Performances gesprächig. Einmal muss Valerie Schweiß abliefern, mit dem gemalt werden soll, ein andermal soll die Aura der Betrachterin nahtlos auf die Leinwand geklebt werden. Schließlich stülpt man ihr Kopfhörer über, und spielt ihre eigenen Angstschreie der letzten Nacht ab.

Schon bald verliert die Beobachterin jegliches Gefühl für Raum und Zeit und gibt sich dem Spitzbergen-Effekt hin. Manchmal sind Schüsse zur Eisbärabwehr zu hören. Sie könnten echte Tiere vertreiben oder aber auch nur die Vorstellung davon. In beiden Fallen wäre die Kunst gefährdet.

Die Erzählerin protokolliert tapfer, manchmal ist der Kugelschreiber der letzte Halt, den sie findet. Unklares fasst sie umso kompakter in einer Theorie zusammen.

Was im Werk zu sehen ist, entscheidet der Künstler. Was im Werk nicht zu sehen ist, entscheidet der Betrachter. (53)

Natürlich spielt auch die Erotik eine permanente Rolle, aber die Künstler nennen das Wirken mit den Geschlechtsorganen einfach Kunstvorgang, und auch die überrumpelte Erzählerin lässt sich auf jenes Spiel ein, bei dem ein Pinsel schon mal in eine Körperöffnung fahren kann. Der Wind bläst in diesen Breitengraden nach einer lyrischen Melodie.

Er ist ein Unbekannter, der jedem in die Fresse schlägt. (72)

In der letzten Nacht lässt sich die Journalschreiberin zu einem heftigen Umtrunk hinreißen. Kein Wunder, dass es zu einem Filmriss kommt. Im Journal heißt es lapidar, vier Seiten fehlen. Aber sie selbst wacht in voller Kotze auf und bemerkt den Einstich am Unterarm, sie glaubt an Narkose, aber man hat ihr Blut abgezapft, um damit auf der Leinwand zu malen. Die Gesichter beginnen sich aufzulösen in die Fratze von Edvard Munch, Eisbären sind nah und es fällt zumindest ein Schuss, der Rest ist Schweigen.

Im Anhang nimmt der Leiter einer psychiatrischen Anstalt Stellung zum Suizid, der offensichtlich in der letzten Nacht geschehen ist, es sind noch nicht alle Motive erforscht, die das Ende der Valerie Vogler herbeigeführt haben. Das Journal wird den medizinischen Dokumenten beigefügt.

Constantin Schwab erzählt heftig, in spitzen Schüben und ohne Selbstbeschönigung der vortragenden Person. Erinnerungen mit dem armen Lenz, der durchs Gebirge geht, tun sich auf, aber auch der schwere Monolog in Schnitzlers „Fräulein Else“ erfährt im Spitzbergen-Design eine neue Schärfe. Die dargebotenen Kunsttheorien sind durchaus praktikabel und erstaunlich klar für den Zustand höchster Selbstauflösung. – Romantisch, aber meisterlich nüchtern.

Constantin Schwab, Das Journal der Valerie Vogler. Roman
Graz: Droschl Verlag 2022, 128 Seiten, 20,00 €, ISBN 978-3-99059-099-7

 

Weiterführende Links:
Droschl Verlag: Constantin Schwab, Das Journal der Valerie Vogler
Kärntner Schriftsteller Verband: Constantin Schwab

 

Helmuth Schönauer, 04-04-2022

Bibliographie

AutorIn

Constantin Schwab

Buchtitel

Das Journal der Valerie Vogler

Erscheinungsort

Graz

Erscheinungsjahr

2022

Verlag

Droschl Verlag

Seitenzahl

128

Preis in EUR

20,00

ISBN

978-3-99059-099-7

Kurzbiographie AutorIn

Constantin Schwab, geb. 1988 in Berlin, lebt in Wien.