Felix Philipp Ingold, Überzusetzen

felix philipp ingold, übersetzenLiteratur ist ein Material, das je nach Konsistenz gewisser Formen bedarf, um es zu transportieren oder archivieren. Neben den klassischen Erscheinungsformen wie Roman, Gedicht oder Essay gibt es noch etwas, was sich in keiner Form fassen lässt. Augenzwinkernd könnte man vom „Nichteingezwängten“ reden, also einem Text, der für alle Formangebote zu groß oder zu klein ist.

Felix Philipp Ingolds Literatur ist formvollendetes Nichteingezwängt-Sein. In voluminösen Bänden erscheint sein Lebenswerk quasi neu zusammengesetzt für die Nachwelt. Das heißt, die bislang veröffentlichten Schriften werden oft ihres Genres entkleidet und erscheinen als Stoffsammlung mit eingefügten Essays, Notizen, Repliken und Umschreibungen des früheren Zustandes als Erstveröffentlichung.

Das Thema „Überzusetzen“ beleuchtet zwei Vorgänge, die nicht voneinander zu trennen sind. Einmal soll der Text samt Aura und Autor übergesetzt, hinüber-gerudert werden zum Leser, zum anderen soll ein Text aus der einen Sprachwelt in die andere transportiert werden. Jeder Übersetzer wird dadurch zum Romantiker (158), weil in dieser Epoche erstmals flächendeckend Sprachen und Kulturen als ausgeschilderte Leseroute erschlossen und sprachlich erwandert werden konnten.

Wie bei allen lose ausgelegten Textsammlungen braucht es vor der Lektüre eine Kalibrierung der Lesererwartung. Im Falle von „Überzusetzen“ empfiehlt es sich, das dreißigseitige Schriftverzeichnis aus den Jahren 1975–2020 durchzublättern. Von der Gegenwart ausgehend, in der sich der Autor mit der russischen Lyrikerin Marina Zwetajewa beschäftigt hat, geht es über Appolinaire, Rilke, Mandelstam, Nabokow, Achmatowa, Joseph Brodskiy, Gennadij Ajgi zurück zu einem Text aus dem Jahre 1975, der mit „Russische Rilkeana“ überschrieben ist.

Der Autor beschäftigt sich dabei mit Themen wie: Nachdichtung, „neu eindeutschen“, Glossieren einer Sprache, zwischensprachliches Übersetzen oder Sprache als Gestus, der beim Übersetzen „gesetzt“ werden muss.

Beim Durchstreifen der Dichtung mit den Augen eines Handwerkers, ergeben sich zwangsläufig Meistersätze, wie ja der Übersetzer vielleicht an der Grenze zwischen Handwerk und Kunst anzusiedeln ist. „Was sich nicht übersetzen lässt, ist Dichtung.“ Zwischen dem Text und dem Leser muss sich etwas aufbauen, was man „Ereignis“ nennen könnte. (160)

Die sogenannte Theorie fällt beim Hobeln der Sprache ab. Vieles lässt sich mit Anekdoten verdeutlichen, zum Beispiel die Überlegung, dass Marx nie in der Sowjetunion eine solche Rolle gespielt hätte, hätte er auf Russisch geschrieben. Zum Kapital gehört es offensichtlich, dass seine Urfassung deutsch ist.

Anekdoten, knapp an der Mythologie angesiedelt, braucht es offensichtlich, um ein Lebenswerk voller Arbeit und Übersetzung für sich selbst auszuhalten. Der Autor erleichtert sich zwischendurch mit einem Tagebuchähnlichen Notiz-Stil, um den beschriebenen Sachverhalt offen zuhalten.

Zur Mythenbildung kann auch ein Autor selbst beitragen, wenn er surreal oder fiktional einem Text zugeordnet wird. So ist beim Geheimtipp eines gewissen Kelly lange nicht klar, ob es ihn überhaupt gibt. Ein mysteriöser Urheber erleichtert das Übersetzen, weil niemand an der Quelle nachfragen kann, wie es eigentlich gemeint ist.

Zur Verrätselung eines Handwerks trägt auch bei, dass man dafür eine eigene Sprache aus Neologismen schafft. Jacques Derridas Erfolg soll ja letztlich darauf beruhen, dass seine Begriffe weltweit zitiert werden, ohne zu hinterfragen, ob sie überhaupt notwendig sind. Wortschöpfungen mit großer Zitabilität sind etwa: Logozentrismus, Phallogozentrismus, Dekonstruktion, Dissemination, Differanz, Verabgründung, Zirkumfession (64).

Wer lange genug übersetzt, kann auch auf die Trends reagieren, die sich über die Kultur des Übersetzens legen.

So ist momentan der Trend zur Neuübersetzung en vogue. Das liegt zum einen darin begründet, dass man Fehler einer schlechten Übersetzung ausbügeln will, hat aber auch mit dem Marketing des Lesens zu tun, wonach man mit einer Neuübersetzung besser auf die Lektüreerwartung eingehen kann. An dieser Stelle wird der Übersetzer auch zum Marktbeobachter.

Nicht immer ist das Brot des Übersetzers trocken, manchmal gibt es auch etwas Wurst drauf in Gestalt einer grotesken Begebenheit.

Der Ich-Erzähler fährt mit dem Zug von Kiew nach Lviv und muss aufs Klo. In der Kabine sind diverse Zeitungsausrisse in einen Wandbehälter gesteckt, manche Papierfetzen liegen aber schon im Unrat am Boden. Als sich der Erzähler während der Erleichterung etwas nach vorne beugt, sieht er ein russisches Gedicht am Boden liegen. Er nimmt es nach gelungener Aktion mit auf seinen Sitz, dechiffriert es und merkt, es ist sein eigenes Gedicht, das er vor Jahren selbst ins Russische übersetzt hat. (54)

Jetzt ist die Zwischenwelt der Sprache ausgeleuchtet und alles ist klar. Felix Philipp Ingold hat dem Thema „Überzusetzen“ Fasson gegeben, indem er alle Falzungen glatt gestrichen hat.

Felix Philipp Ingold, Überzusetzen. Versuche zu Wortkunst und Nachdichtung
Klagenfurt: Ritter Verlag 2021, 323 Seiten, 24,00 €, ISBN 978-3-85415-621-3

 

Weiterführende Links:
Ritter Verlag: Felix Philipp Ingold, Überzusetzen. Versuche zu Wortkunst und Nachdichtung
Wikipedia: Felix Philipp Ingold

 

Helmuth Schönauer, 01-02-2022

Bibliographie

AutorIn

Felix Philipp Ingold

Buchtitel

Überzusetzen. Versuche zu Wortkunst und Nachdichtung

Erscheinungsort

Klagenfurt

Erscheinungsjahr

2021

Verlag

Ritter Verlag

Seitenzahl

323

Preis in EUR

24,00

ISBN

978-3-85415-621-3

Kurzbiographie AutorIn

Felix Philipp Ingold, geb. 1942 in Basel, lebt in Zürich.