Gerhard Rühm, Epigramme und Epitaphe

gerhard rühm, epigramme und EpitapheÄhnlich den Beatles gilt auch der Wiener Gruppe seit beinahe siebzig Jahren die kollektive Aufmerksamkeit der Fans, dabei kommen die einzelnen Mitglieder auf den ersten Blick etwas zu kurz.

Gerhard Rühm ist das letzte noch lebende Fünftel der Wiener Gruppe, die vorerst als germanistisches Kunstprodukt gehandelt wird, haben doch die Mitglieder Friedrich Achleitner, H. C. Artmann, Konrad Bayer, Oswald Wiener und eben der Autor der Epigramme und Epitaphe nur losen Kontakt. Spötter sagen, die Germanisten hätten die fünf erst miteinander bekannt gemacht, damit sie das auf die Bühne brächten, was die Dichter-Macher von ihnen verlangten.

Ein starkes Label kann bekanntlich nur durch den Tod zerstört werden, und jedes Mal wenn einer stirbt, geben die Überlebenden einen Band heraus. Gerhard Rühms Solo-Stück ist freilich als Geschenk zu seinem Neunziger gedacht gewesen und wegen der Seuche um ein Jahr verschoben worden.

In den 1950ern haben jene Menschen, die am freien Markt Bücher gelesen haben, anstandslos die Wörter Epigramm und Epitaph erklären können, heute hat sich alles ins Netz verlagert, wo man anstandslos die im Alltagsgebrauch verlorenen gegangenen Wörter nachschlagen kann. Unter Epigramm versteht man ein zugespitztes Sinngedicht, und Epitaphe werden Grabinschriften genannt.

Der Autor greift mit den Epigrammen in den Schilder-, Annoncen- und Formularwald der Nachkriegszeit, und schon diese Handbewegung in einen mittlerweile fremden Textkosmos macht aus dem Vorgestellten eine spezielle Literatur der „Wiener Gruppe“. Dort arbeitete man mit Verfremdungen akustischer und visueller Art, oft machte schon das Austauschen des Umfeldes aus einem Taxischild ein Gedicht.

Die Epigramme sind in einen visuellen Sixpack „Sechs mal sechs“ aufgegliedert, zu sehen gibt es eine Wartekarte für eine Behörde in Köln, einen Aufruf, das R zu retten, da es schlecht ausgesprochen oder gar verschluckt wird, einen Hinweis auf eine Zeitbombe, die unauffällig in einem Inserate-Haufen versteckt ist. „Am Herrgott schnitze ich drei Tage“, „Schnuller verloren: Papst segnet Kind“, „Finden Sie den Herbstbegriff!“ Manche Schlagzeilen schlagen noch um sich wie ein geköpftes Huhn, um in einem miesen Vergleichsmodus zu bleiben, der den Stil der Ausrisse aber halbwegs trifft.

Eine pure Graphik kann zu einem visuellen Gipfelereignis werden, einmal führt jemand eine Strichliste, die in eine Erregung aus fünf Strichen mündet, ein andermal zittert die Nadel eines Hochdruckgebiets über die Papierwalze des Messgeräts hinaus. Hänsel und Gretel verlieren sich in einem Suchaufruf der Polizei, auf einem Fahndungsplakat sind hunderte von Fahndungsgesichtern abgebildet, da werden Hänsel und Gretel wohl dabei sein.

Die Epitaphe sind in erster Linie kurz angebunden, um dem Steinmetz überflüssige Arbeit zu ersparen, wenn er die wichtigsten Wörter in den Stein hauen muss. „Notschlachtung“, die Buchstaben ergeben untereinandergeschrieben ein schlankes Gedicht, welches das Auge stilvoll ins Jenseits hinüberlenkt (60).

Ewigkeiten // das ewige eis geschmolzen / die ewigen wälder abgeholzt / das ewige leben zu kurz (79)
Schließen // die türen / die fenster / die augen (80)

Die fundamentalen Epitaphe wuchern freilich üppig in den Weltfriedhof hinaus, sobald sie thematisch Fahrt aufgenommen haben, den Zustand an der Kante zwischen Leben und Tod zu beschreiben.

In einem Polizeigedicht wird jemand besungen, der gerade zusammengeschlagen worden ist.

Eine Ode an den „Gang der Dinge“ (67) spricht die Wahrheit über die letzten Dinge aus.

welkes laub die wohnung füllt / alle möbel sind zerknüllt / die tür bauscht sich als eiterblase / das fenster fault geneigt zur straße // fäulnis kriecht den rinnsteinweg / tropft in die kanäle träg / es dampft der abfall, kot, urin – / gut dass ich schon gestorben bin (67)

An dieser Stelle ist er wieder spürbar, der morbide Geist der Wiener Gruppe, die mit Grabliedern, Todesdramoletten und Friedhofsongs makaberen Furor entfacht haben.

Notenbeispiele im Stile einer Minioper hat der Autor zu einem atonalen Grabritual eingedampft, den Schluss bilden Bienentänze und Bienensongs, mit denen sich diese untergehende Spezies aus dieser Welt verabschiedet.

In einer kompakten Nachbemerkung ordnet Gerhard Rühm dieses Spektakel um Epigramme und Epitaphe in sein Gesamtwerk ein, dabei werden auch Veränderungen und Erweiterungen angesprochen, die in der aktuellen Forscheredition ( = Gesammelte Werke in zehn Bänden) noch nicht berücksichtigt sind.

Der Letzte einer Gruppe ist immer der Quirligste, sagt man allgemein über Bandmitglieder, wenn alle gestorben sind bis auf den einen.

Gerhard Rühm, Epigramme und Epitaphe
Klagenfurt: Ritter Verlag 2021, 135 Seiten, 14,90 €, ISBN 978-3-85415-627-7

 

Weiterführende Links:
Ritter Verlag: Gerhard Rühm, Epigramme und Epitaphe
Wikipedia: Gerhard Rühm

 

Helmuth Schönauer, 27-12-2021

Bibliographie

AutorIn

Gerhard Rühm

Buchtitel

Epigramme und Epitaphe

Erscheinungsort

Klagenfurt

Erscheinungsjahr

2021

Verlag

Ritter Verlag

Seitenzahl

135

Preis in EUR

14,90

ISBN

978-3-85415-627-7

Kurzbiographie AutorIn

Gerhard Rühm, geb. 1930 in Wien, lebt in Köln und Wien.