Hanne Römer, .aufzeichnensysteme, Raute

hanne römer, rauteWenn das Medium Buch gesprengt wird, entsteht vielleicht daraus eine Raute, die sich als Vorsatzzeichen für Hashtag-Botschaften einsetzen lässt.

Hanne Römer setzt jedenfalls mit „Raute“ den Schlusspunkt eines Aufzeichnungsdestillats, dessen frühere Bände „Grate“ und „Im Grünen“ heißen. Im dritten Band ist wieder alles in Aufruhr und Umbruch, das Material drängt sich so übermächtig zu einem Haufen zusammen, dass selbst die Autorenschaft überlagert wird.

Raute hat nicht einmal mehr eine Autorin als Bezugspunkt für das Katalogisieren, sondern „Punkt.aufzeichnensyteme“ hat die Regie übernommen. (Für Bibliothekare ist es ein Horror, ein Buch ohne Autorin ins Inventar aufnehmen zu müssen!) Gesteigert wird diese Verweigerung von Buchdaten damit, dass auch noch die Seitenzahl verweigert wird. Somit wird der Fingernagel zum Hauptinstrument für archaisches Navigieren, wenn irgendwo in den Buch-Block gegrapscht werden muss, um zu einer bestimmten Stelle zu gelangen.

Nach einer doppeldeutigen Widmung „gegen die Sonne“ (kann die Blickrichtung oder auch eine Maßnahme bedeuten) werden die vier Cluster vorgestellt, die zusammen die Raute machen.

Nabe, Rost, Takt und Hall sprechen vier Aggregatszustände des Erzählens an. Nabe entpuppt sich als zentrale Achse eines rotierenden Geschehens, Rost gilt als Inbegriff von Oxydation und Vergänglichkeit, Takt entspricht jener Zeit, die sich jemand durch Taktung untertan gemacht hat, und der Hall ist ein zeit- und ortsgebundenes Nachwirken eines Ereignisses.

Völlig aus der Raute gefallen beschließt die Erzählung ein Schwarzweißbild, worauf eine Figur unter einer Outdoor-Kapuze auf einer Nische kauert, die ein Biber in der Nacht zuvor in einen fetten Baum geschabt hat. Das Wasser steht im Bild bis über die Knöchel der Figur.

Erzählung ist natürlich zu euphorisch gemeint. Was dem Leser zur Verfügung steht, ist ein Leitsystem aus Wörtern, das einen scheinbar fixen Text-Pfad ermöglichen. Letztlich sind die Wörter aber nur Teil einer Spielanleitung, die nicht näher ausgeführt ist. Zwischen den Begriffen lässt es sich im Rösselsprung genauso verkehren wie mit den anderen Regeln des Schachspiels, es können die Begriffe aber auch zusammengewickelt werden wie beim Scrabble, oder man würfelt überhaupt darum, in welchen Schritten der Text abgearbeitet werden soll.

Die einzelnen Schritte:

  • Nabe – sperren bauen schlichten setzen festigen
  • Rost – eingegangen verbraucht aufgelöst vergessen abgesagt
  • Takt – zählen antreten einlagern markieren anschlagen
  • Hall – abfallend durchdringend freigestellt nachwirkend auftauchen

Diese Begriffs-Raute lässt sich physikalisch, musikalisch oder textuell lesen, es kann sich um Versuchsanordnungen handeln, um Reportagen oder kunsttheoretische Essays.

Freilich wird für einen finalen „Erzählschritt“ jede Menge semantisches Mikroplastik ausgestreut, das aus diversen Vorgänger-Konsistenzen herausgeschreddert ist. Der etwa in der Beamtenschaft weit verbreitete Fachbegriff „eingegangen“ für einen amtlichen Postverkehr, der die Einlaufstelle geschafft hat, dann aber auf gut österreichisch eingegangen ist, löst konkrete Sub-Begriffe aus.

auflösung / verknüpfen / gezielt / notsprechen / fallen / genauso / beginnt höhe / funktioniert / transparenz / knopfdruck / zuckt / ausgestrahlt / als wäre nichts gewesen / beeinflusst / technologisch / in die menge / zusammensicht / hingabe / wahllos / betäubt […]

Daraus lässt sich nun vielleicht ein Herbstgedicht komponieren, eine Skizze für einen Essay oder der Vorbericht an eine übergeordnete Dienststelle. Das Verfahren wird Decollage genannt und kann in beide Richtungen gelesen werden. Aus den Wrackteilen einer Geschichte entsteht somit eine neue Geschichte.

Wem diese intensive Lektüre der Raute noch nicht reicht, der kann diesen Band ja noch im Lektüreverbund mit den anderen Büchern der Trilogie beobachten, „Grate“ und „Im Grünen“ sind systemkompatibel. Überhaupt ist das Projekt „.aufzeichnensysteme“ nach oben und unten offen, es lässt sich wie Lyrik bis auf einen einzigen Wortklang hinunterbrechen oder nach oben hin ins Universum transportieren.

Hanne Römer stellt ihre Kunst als Konzept-Literatur vor, sie macht Vorschläge, aber es liegt am Leser, wie er seine Raute individuell einrichtet.

Hanne Römer, .aufzeichnensysteme, Raute.
Klagenfurt: Ritter Verlag 2021, 152 Seiten, 14,90. €, ISBN 978-3-85415-619-4

 

Weiterführende Links:
Ritter Verlag: Hanne Römer .aufzeichnensysteme, Raute
Literatur Port: Hanne Römer

 

Helmuth Schönauer, 29-08-2021

Bibliographie

AutorIn

Hanne Römer

Buchtitel

Raute

Erscheinungsort

Klagenfurt

Erscheinungsjahr

2021

Verlag

Ritter Verlag

Seitenzahl

152

Preis in EUR

14,90

ISBN

978-3-85415-619-4

Kurzbiographie AutorIn

Hanne Römer, geb. 1967 in Bad Vilbel, lebt in Wien.

Themenbereiche