Robert Stähr, Plattform eins

robert stähr, plattform einsIn manchen Kulturen wird das Parterre eines Gebäudes mit „Plattform eins“ bezeichnet. Das trifft sich gut, denn unter Parterre versteht man im psychologischen Kontext einen Zustand, bei dem die Helden seltsam am Boden sind. – „Heute bin ich wieder ganz Parterre!“

Robert Stähr nimmt drei Anläufe, um derangierte Helden und am Boden zerstörte Individuen auf die Plattform eins zu heben. Eingestimmt wird der Leser auf die jeweiligen Abschnitte mit drei Tuschzeichnungen von Sandra Lafenthaler, die wie brüchige Lava-Konturen Umrisse zum Vorschein bringen. Sie erinnern einmal an ein Knäuel Papier, dann wieder an eine schräg aufgezogene Jalousie und schließlich an einen notdürftig zusammengeklappten Seilzug. Die Linien dieser drei Zeichnungen sind spröde, der Strich setzt zwischendurch aus und ergibt schließlich ein Stück pure Perforation.

Um dieses brüchige, klare Linien verweigernde Kampffeld zwischen den psychischen Zuständen „dünnhäutig“ und „perforiert“ geht es in den drei Textfeldern. Sie machen vor allem durch Gleichzeitigkeit der Ereignisse auf sich aufmerksam. Trotz aller Dynamik des Erzählten korrespondiert diese Situation mit einem Wimmelbild, das auf der Plattform ausgegossen ist wie Erinnerungs-Pixel nach einer hartnäckigen Befragung.

Erste Sequenz (9): In einem absatzlos verdichteten Ambiente ist vor allem ein Zustand manifest – „zwischen dem Müll wächst kein Gras.“ (9) Dieser Beginn schlägt wie eine Präambel zum Zustand der Gegenwart auf. Ganze Kolonnen von Ereignissen im öffentlichen Raum docken an diesen Satz an, der mit kleinem Anfangsbuchstaben geschrieben daran erinnert, dass er irgendwie eine Fortsetzung einer anderen Gegebenheit ist, die im erzählten Nichts liegt.

Die Menschen üben Tätigkeiten aus, wie sie in einem Protokoll stehen könnten, wenn eine Videoüberwachung ausgewertet wird. Die einzelnen Begebenheiten stehen in keinem Zusammenhang untereinander, wiewohl sich ständig Leute hinter Gardinen ins Spiel bringen, aneinander vorbei hetzen oder zwischen Höfen und Häusern persönliche Koordinaten für den Eigenschutz aufsuchen. Ein Hubschrauber überfliegt die Szenerie, er hat keine Passagiere an Bord und dient wohl der Überwachung. Vielleicht fliegt er auch nur, um gesehen zu werden. Vielleicht sieht seine Kamera aber das Mädchen mit nassen Augen, den Mann, der sich an der Toilette übergibt, oder die drei Raufbolde, die kurzfristig den Gehsteig blockieren.

Die Sätze stammen aus einem Lehrbuch, das einem Alltags-User die wichtigsten Floskeln vorstellt, mit denen er gewöhnliche Vorgänge für sich selbst zuordnen und abhaken kann. Schließlich gibt es noch einen Unfall zwischen einem Fahrerflüchtigen und einem Radfahrer, aber die potentiellen Zeugen weichen dem Geschehen aus.

Zweite Sequenz (17): Auf über dreißig Seiten zelebrieren ein Mann und eine Frau permanenten Stellungswechsel, dieser erfolgt freilich nicht im erotischen Sinn, sondern als ständiges Wegsperren, Zusperren, Überwachen und Beäugen. In kurzen Einstellungen aus der Ich-Perspektive hasten die Protagonisten durch die gemeinsame Wohnung, die sie freilich in ein raffiniertes Gefängnis verwandelt haben.

Das ist mein Zimmer, niemand redet mir drein, wenn ich die Möbel umstelle oder die Bilder wechsele. (18)

Zwischendurch wird das Wegsperren selbst zu einem handgreiflichen Akt, jemand rüttelt so lange an der Tür des anderen, bis der Griff abgebrochen ist. (41) Das führt zur nächsten Stufe der Eskalation und mündet in der lapidaren Erkenntnis: „Keiner von ihnen [den Außenstehenden] kann uns befreien. Oder hast du jemandem einen Nachschlüssel gegeben?“ (44)

Die beiden schießen ihre Absätze wie Munition aufeinander, einmal er, dann sie, aber weil sie einander nicht treffen, ist kein Ende des Stellungskrieges in Sicht.

Dieses Kammerstück Sartre’schen Ausmaßes (vgl. „Geschlossene Gesellschaft“) endet im Desaster der Sinnesorgane, letztlich ringen beide um Luft, weil naturgemäß die Wohnung in ihrer eigenen Stickigkeit versinkt, und die Sicht beschränkt sich auf einen amorphen Grauton, es ist nämlich alles verschmutzt. (52)

Dritte Sequenz (57): In einem kurzen Rundgang verschafft sich der auf sich selbst bezogene Ich-Erzähler einen Eindruck über den Zustand seiner selbst und seiner Wohnung. Mit der Weitschweifigkeit eines Möbelhauses ausgestattet wirken die einzelnen Möbel und Gegenstände unterdimensioniert. Der Ich-Erzähler arbeitet den Rundgang ab, wie andernorts ein Security-Man seine Runden dreht. Die wichtigsten Gegenstände sind Matratze und Kühlschrank, weil sie offensichtlich ständig zwischen Standby und Arbeitsmodus wechseln. Die Erkundungen werden unterbrochen von den Stimmen im Stiegenhaus, die aber keinen Informationswert haben. Endpunkt ist ein kurzer Luftschnapper im Hof, wenn dieser menschenleer ist.

Während das Flanieren durch die Wohnung seltsam kalt und emotionslos abgewickelt wird, meldet sich zaghaft die sogenannte Innenwelt als Traum, psychische Störung oder romantischer Kommentar zu einer längst verflossenen Sache. Diese Absätze sind dann kursiv gesetzt, ehe sie von der Mechanik des Abschreitens wieder „gerade gerückt werden“ als Text.

Die kursiven Sätze haben eine relativ lange Halbwertszeit, sodass sie ständig in die Geradlinigkeit des Erzählten hineinpfuschen.

„Ich träume mich selbst, nehme ich an, um diese Annahme sofort wieder zu verwerfen.“ (64) / „Ich wollte zu ihr Kontakt aufnehmen.“ (69) / „Die Welt ist schön, könnte schön sein.“

Allmählich gelingt es dem Ego-Helden bis zum Kern der Dinge vorzudringen, zumindest ist seine Sehnsucht danach zum Greifen dicht. Aber bei genauerem Hinsehen liegt dieser Kern der Dinge höchstens in der Matratze verborgen, die ihre Funktion unbeeindruckt vom Ablauf der Zeit erfüllt. „Die Zukunft könnte längst passiert sein, wäre die Vergangenheit endlich zu Ende.“ (78)

Robert Stähr erzählt mit einem an Buster-Keaton erinnernden witzigen Ton: Stumm!, kalt, irritierend klar. Seine drei Sequenzen könnte man wie einen in drei Flügel aufgefächerten Altar lesen, die Dinge werden zur Schau gestellt, damit sie mit Inbrunst vom Leser angebetet werden können. - Plattform eins ist alles andere als eine flache Angelegenheit.

Robert Stähr, Plattform eins. Mit Zeichnungen von Sandra Lafenthaler
Klagenfurt: Ritter Verlag 2023, 79 Seiten, 15,00 €, ISBN 978-3-85415-662-8

 

Weiterführende Links:
Ritter Verlag: Robert Stähr, Plattform eins
Wikipedia: Robert Stähr
Homepage: Sandra Lafenthaler

 

Helmuth Schönauer, 30-09-2023

Bibliographie

AutorIn

Robert Stähr

Buchtitel

Plattform eins

Erscheinungsort

Klagenfurt

Erscheinungsjahr

2023

Verlag

Ritter Verlag

Illustration

Sandra Lafenthaler

Seitenzahl

79

Preis in EUR

15,00

ISBN

978-3-85415-662-8

Kurzbiographie AutorIn

Robert Stähr, geb. 1961 in Linz, lebt in Linz.

Sandra Lafenthaler, geb. 1980, lebt in Linz.