Lidija Klasic, Noch 172 Tage bis zum Sommer

Es gibt so psychisch helle Sonnenaufgänge, auf die sich nicht nur Kinder hinzählen, soundso viele Tage, dann kommt das Christkind, sondern auch Erwachsene, soundso oft noch an der Zeitmaschine einchecken, dann kommt die Pension.

Lidija Klasic lässt den Sehnsuchtsseufzer „Noch 172 Tage bis zum Sommer“ von einer Künstlerin ausstoßen, die bei Einbruch des Herbstes ihre Werkstätte schließt und das Areal winterfest macht. Istrien spielt nämlich in den Wahrnehmungen und Lobeshymnen immer im Sommer. Der kluge Kunstexperte freilich weiß, dass die wahren Schätze winterfest in den alten Gemäuern schlummern.

In vierzehn Reise-Essays wird Istrien nicht nur für den Sommer erzähltauglich gemacht, eine Spezialität der Halbinsel besteht auch in ihrer kulturellen Infrastruktur. An der Küste spielt sich der Wahnsinn und Bade-Boom ab, im Landesinneren liegen die seltenen Pflanzen, Ritualplätze und raren Tavernen, die sich die Einheimischen gerettet haben.

Im südlichen Erzählstrom der Aufsätze kommt vor allem die mediterrane Küche zum Vorschein, es geht um schwarzes Salz, das nach alter Tradition in Dunstbecken gewonnen wird, um Trüffel, die nur von Eingeweihten im Boden enttarnt werden dürfen, und um geheimnisvolle Schattenplätze, in die sich die einheimischen Genussmenschen während des Touristentrubels zurückziehen.

Zwischen Innenland und Meer ist dann auch die Kunst angelegt, die seit Jahrhunderten die Halbinsel umspannen wie eine Perlenkette. Darin sind jene Verknotungen eingeflochten, die internationale Künstler zum Schwärmen oder Seufzen gebracht haben. Vor allem für James Joyce wird Istrien ein Grenzgang, als er aus Pola ein paar Zeilen in die irische Heimat schickt. Derr Ort macht ganz auf Jugendstil und österreichischen Flottenhabitus, während hinter den Fassaden oft schon ein Wind einsetzt, der sibirisch zu nennen ist. (101)

Über Istrien gibt es wie über alle touristisch erschlossenen Gegenden einen Zitier-Schatz, der unweigerlich ausgeschüttet werden muss. So kommt neben James Joyce auch die Familie Nabokov mit dem berühmten Lolita-Mann zum Zitier-Einsatz, die nach der russischen Revolution ihr Vermögen in den diversen Badeorten des Kontinents durchgebracht hat.

Der kulturelle Schatz wird abgedeckt vom alten Fiume bis hin zu Rovinj, das manchmal abschätzig als Vorort von Triest bezeichnet wird.
Zwischen den Zeilen drängt manchmal die Geschichte hervor, das Land steht mehrsprachig unter Strom, was in der Kunst eine offene Stimmung bringt. Dass es dabei auch negative Spannungen geben kann, merkt man mit fernen Zitaten, wenn etwa Tito seinen geheimen Lieblingsplatz vorstellt oder Franjo Tudjman mit seiner Kamarilla diverse Residenzen übernimmt. (125)

Die Autorin ist erst lange nach dem jugoslawischen Bürgerkrieg wieder nach Istrien gekommen, sie sieht mit einem Blick die Verwundungen und Aufschürfungen an der Landesoberfläche, ihr kulturelles Empfinden freilich sagt, dass der Sommer des Friedens nicht mehr weit ist, vielleicht sind es genau 172 Tage.

Lidija Klasic, Noch 172 Tage bis zum Sommer. Eine istrische Reise
Wien, Bozen: Folio Verlag 2017, 151 Seiten, 20,00 €, ISBN 978-3-85256-717-4

 

Weiterführender Link:
Folio Verlag: Lidija Klasic, Noch 172 Tage bis zum Sommer

 

Helmuth Schönauer, 25-07-2017

Bibliographie

AutorIn

Lidija Klasic

Buchtitel

Noch 172 Tage bis zum Sommer. Eine istrische Reise

Erscheinungsort

Bozen

Erscheinungsjahr

2017

Verlag

Folio Verlag

Seitenzahl

151

Preis in EUR

20,00

ISBN

978-3-85256-717-4

Kurzbiographie AutorIn

Lidija Klasic, geb. in Krapina, lebt in Berlin und Rovinj.