Thomas Brunnsteiner, Bis ins Eismeer

Am Rand des Kontinents hören die Gespräche auf und die Geräusche dienen der Kommunikation mit dem Nichts. Auf dem Weg in das Weiße oder Schwarze dieser Leere trifft der Reporter immer wieder vereinzelte Menschen, die als Außenposten einer Erzählung angesehen werden können.

Thomas Brunnsteiner berichtet in seinen Reportagen von Menschen, die vor Jahrzehnten schon an den Rand verlorengegangen sind, sich selbst ausgesetzt haben oder auf dem Weg dazu sind wie jener LKW-Fahrer, der in seiner Arbeits- und Schlafkapsel ständig zwischen Österreich und Nordschweden hin und her fährt.

Oft sind es Außenposten einer vergangenen politischen Konstellation wie Bunker aus der Eismeerfront, abgewrackte Hafenanlagen aus der sowjetischen Eismeerzeit oder biographisch abgerissene Siedlungen, an denen verloren die Letzten ihrer Zunft ausharren. Über all diesen Existenzen schwebt vielleicht das Tschechow-Zitat von der Insel Sachalin:

Aus Langeweile / sind alle bereit, / zu sprechen oder / endlos zuzuhören. (27)

Thomas Brunnsteiner baut in den Reportagen die O-Töne zu essayistischen Lebensversuchen zusammen, keiner der Befragten ist sich sicher, ob es auch richtig ist, was er gemacht hat, aber jetzt sind nun einmal nur noch die Worte für das Geschehene vorhanden.

Ein Tiroler ist noch vor der Wehrmacht 1931 ausgezogen, um schließlich Lappe zu werden. Von ihm ist auch die Weg- und Lebensbeschreibung:

Ich geh jetzt weg. Bis ins Eismeer! (73)

In der Bergbaustadt Kirkenes warten indes Russen jahrelang auf ihren rostenden Kuttern auf Fischfang-Lizenzen, die niemand mehr ausstellt. Ein letzter Seemann, der noch auf einem Windschiff unterwegs gewesen ist, macht sich daran, samt der Segelkunst die Segel für dieses Leben zu streichen.

Aber auch große Menschenmassen retten den Einzelnen nicht davor, unerkannt und ohne Mucks unterzugehen. In Moskau sitzt ein serbischer Dissident, dem der Pass abgelaufen ist und der sich nirgendwo mehr sehen lassen kann. Als U-Boot schwärmt er von einem Schlafplatz zum Nächsten. Auf einem großen Vergnügungsschiff fährt eine gigantische Menschenmasse durch die entlegenen Gewässer und kann keinen Kontakt zur Umgebung aufnehmen. Alles wird autark am Liner durch die glasige Gischt gelenkt, die Menschen gleichen einer riesigen Quarantänestation.

Am Inarisee finden sich noch ein paar Spuren eines vergangenen Volkes, von dem man nicht weiß, ob es nicht schon restlos ausgestorben ist. Und auch die Geschichtsspuren lösen sich manchmal in unglaubliche Ereignisse auf, wenn etwa ein finnischer Jude mit einem Eisernen Kreuz behaftet wird.

Thomas Brunnstein hat mit diesen Rand-Geschichten eine eigene Erzählgattung geschaffen. Den Protagonisten wohnt immer ein Verstummen inne, das vom Initiator geweckt wird, aber nicht als Gespräch sondern als Depot von Überlebensstrategien.

Die Helden erzählen sich selbst als ausgedünntes Mantra den Verlauf und das Auslaufen des Lebens an der Grenze. Der Ich-Erzähler muss selbst völlig wortlos werden, damit er dieses Raunen der entlegenen Sprachen versteht. Essayistische Expeditionen an der Rand der Sprache!

Thomas Brunnsteiner, Bis ins Eismeer. Zwölf Reportagen von den Einwohnern der Welt zwischen Polarkreis und Kaukasus.
Klagenfurt: Wieser 2007. (= Europa erlesen). 197 Seiten. EUR 15,-. ISBN 978-3-85129-660-0.

 

Weiterführende Links:
Wieser Verlag: Thomas Brunnsteiner, Bis ins Eismeer
Wikipedia: Thomas Brunnsteiner

 

Helmuth Schönauer, 27-10-14

Bibliographie

AutorIn

Thomas Brunnsteiner

Buchtitel

Bis ins Eismeer. Zwölf Reportagen von den Einwohnern der Welt zwischen Polarkreis und Kaukasus

Erscheinungsort

Klagenfurt

Erscheinungsjahr

2007

Verlag

Wieser Verlag

Seitenzahl

197

Preis in EUR

15,00

ISBN

978-3-85129-660-0

Kurzbiographie AutorIn

Thomas Brunnsteiner, geb. 1974 in Leoben, lebt in Vaattajärvi.