Carsten Otte, Warum wir

Wer glaubt, Tragödien mit elementarer Schicksalsherausforderung könnten nur in hohen Position oder sozialen Randlage auftreten werden, ist wohl in die Irre geführt. Die höchsten Anforderungen an das Leben stellen sich immer aus heiterem Himmel heraus bei Sonnenschein.

In Carsten Ottes Roman „Warum wir“ macht sich ein paar Seiten lang die Idylle breit, ehe es dann richtig losgeht. In einem zeitgemäßen Patchwork-Arrangement freuen sich der Ich-Erzähler Jan und seine Frau Nina auf das Kind, das soeben vom Schwangerschaftstest bestätigt worden ist. Er wird zum ersten Mal Vater und ist aus dem Häuschen vor Glück, sie hat bereits zwei Kinder und blickt eher routiniert in die Zukunft.

Nur noch ein klitzekleiner Bluttest steht an, doch dann ist nichts mehr wie es war. In der Diagnose zeigt sich, dass das Kind einen Gendefekt hat, Trisomie 13 heißt das schreckliche Wort, das den beiden den Boden unter den Füssen weg zieht.

Alle Ereignisse treten in der Folge als Komplementärmenge zur ungeborenen Tochter auf, die fürsorglich Emma getauft wird. Spielende Kinder, Familienfeiern, Kindergartenlärm, alles deutet auf eine in der Gesellschaft konstruierte heile Welt hin, während in Wirklichkeit alles anders ist. Und natürlich geht die quälende Frage nicht mehr aus dem Kopf, warum wir?

In einer heftigen Phase mit Diskussionen, Therapien und Sedierungen des Gemüts ringen sich Jan und Nina schließlich zu einem persönlichen Weg durch. Das Kind wird nicht medizinisch abgetrieben, sondern mit großer Umsicht auf die Welt gebracht, freilich unter Umständen, die ein Überleben nicht zulassen.

„Das Kind hat die Geburt nicht überlebt“, heißt die beruhigende Formel, die allen ein würdevolles Abschiednehmen von Emma ermöglicht. So gibt es ein Begräbnis für Sternenkinder, die Halbgeschwister steuern Spielsachen bei und Emma wird selbstbewusst zu Grabe getragen, immerhin hat sie intensiv gelebt und das Leben ihrer Familie nachhaltig mitgestaltet durch ihre defekte Daseinsform.

Carsten Otte zeigt mit diesem Seelendrama, dass letztlich in unserer Gesellschaft alles mit Halbwahrheiten und undeutlichen Auskünften geregelt ist. Die Betroffenen werden trotz aller Therapien und Begleitungen alleine gelassen und stehen schutzlos den Vorurteilen und Tabus gegenüber. Andererseits ist das Thema Abtreibung, Sterbehilfe und Umgang mit einem defekten Leben nicht über die Gesellschaft zu lösen und bringt die Beteiligten an den Rand der psychischen Eigenkapazität.

Im Erlebnis-Spektrum der Figuren geht es grotesk, hilflos, ernüchternd und trunken zu. Alle Handgriffe des Familienlebens stehen auf den Prüfstand, und die Frage „warum wir“ lässt sich vielleicht so beantworten, weil es jeden von uns betrifft. – Ein Bildungsroman der realistischen und letztlich herzensguten Art.

Carsten Otte, Warum wir. Roman.
Tübingen: Klöpfer & Meyer 2014. 281 Seiten. EUR 22,70. ISBN 978-3-86351-078-7.

 

Weiterführende Links:
Klöpfer & Meyer Verlag: Carsten Otte, Warum wir
Wikipedia: Carsten Otte

 

Helmuth Schönauer, 20-03-2014

Bibliographie

AutorIn

Carsten Otte

Buchtitel

Warum wir

Erscheinungsort

Tübingen

Erscheinungsjahr

2014

Verlag

Klöpfer & Meyer

Seitenzahl

281

Preis in EUR

22,70

ISBN

978-3-86351-078-7

Kurzbiographie AutorIn

Carsten Otte, geb. 1972 in Bonn, lebt in Baden-Baden.